»In der ersten Protestwoche vertrauten wir Tokajew noch«

Nach den Unruhen: Viele Kasachen haben keine Hoffnung auf einen demokratischen Wandel, erklärt die Aktivistin Karlygasch Makatowa

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 4 Min.

Anfang Januar schlugen Proteste gegen hohe Energiepreise in der kasachischen Wirtschaftsmetropole Almaty in Gewalt um. Wie haben Sie diese Tage erlebt?

Ich war nicht selbst bei den Demonstrationen, sondern in einem Café. Plötzlich hatten wir kein mobiles Internet mehr. Als das Internet kurz funktionierte, erfuhren wir, dass irgendetwas im Gange ist. Am nächsten Tag war ich in den Bergen. Als ich nachmittags nach Almaty zurückkam, stimmte wieder etwas mit dem Internet nicht. Ich verstand überhaupt nicht, was geschah.

Während der Ausschreitungen kamen nach offiziellen Angaben 225 Menschen ums Leben, fast 10 000 wurden verhaftet. Tausende wurden verletzt. Gab es auch in Ihrem Umfeld Opfer?

Ein Bekannter wurde getötet. Er wurde von seinem Bruder in einem Leichenschauhaus mit gefesselten und gebrochenen Händen gefunden. Er vermutet, dass er gefoltert wurde. Freunde und Verwandte haben eine Kampagne gestartet, um herauszufinden, wer ihn getötet hat.

Wir haben so viele unschuldige Opfer. In der Stadt Taldyqorghan wurde eine ganze Familie in ihrem Auto erschossen. Der Vater, die Mutter, ein 15-jähriges Mädchen. Ebenso ein altes Ehepaar, das außerdem im Auto verbrannt ist. Der Sohn wollte die Körper aus dem Leichenschauhaus holen. Von ihnen sind nur noch einige Knochen übrig. Er kann sie nicht begraben, weil er auf die behördliche Freigabe der Leichname warten muss.

Beobachter vermuten eine Palastrevolte gegen Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew hinter den Ausschreitungen. Nach wochenlangem Schweigen hat Nasarbajew Mitte Januar in einer Videobotschaft einen Machtkampf abgestritten. Er sei nur Rentner. Wie reagieren die Menschen?

Karlygasch Makatowa (55), engagiert sich als Umweltaktivistin und kämpft gegen die Errichtung des geplanten Skigebiets Kok Zhailau in einem Nationalpark nahe der südkasachischen Stadt Almaty. Sie ist Managerin des International Jazz Festival in Almaty.
Karlygasch Makatowa (55), engagiert sich als Umweltaktivistin und kämpft gegen die Errichtung des geplanten Skigebiets Kok Zhailau in einem Nationalpark nahe der südkasachischen Stadt Almaty. Sie ist Managerin des International Jazz Festival in Almaty.

Die Bevölkerung hat darauf gewartet, dass sich Nasarbajew wenigstens mit einer Erklärung zeigt. Das Statement kommt zu spät. Viele Menschen glauben, dass das Video im Ausland aufgenommen wurde. Ich glaube, dass sein Auftritt nichts geändert und die Leute wütend gemacht hat.

Präsident Kassym-Schomart Tokajew hat nach den Ausschreitungen Reformen angekündigt. Wie groß ist die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel?

In der ersten Protestwoche vertrauten wir Tokajew noch. Heute aber sehen wir, dass auch er mit den alten gewalttätigen Methoden gegen die Demonstranten vorging. Das beklagen auch Menschenrechtler. Viele Leute werden weiterhin vermisst. Viele sind im Gefängnis, viele wurden gefoltert. Das muss aufhören.

Tokajew will vor allem die soziale Ungleichheit im Land bekämpfen. Dafür hat er die Gründung eines nationalen Fonds angekündigt, in den Oligarchen freiwillig einzahlen sollen. Eine gute Entwicklung?

Einen solchen Fonds gibt es ja schon: Den Staatsfonds »Ssmruk-Kazyna«. Dieser wird nun reformiert. (Anm. d. Red.: Der Staatsfonds im Jahr 2008 von Ex-Präsident Nasarbajew gegründet, um Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft und anderen Wirtschaftsbranchen offiziell für das Wohlergehen künftiger Generationen zu investieren. Kritiker sehen ihn als Quelle der Bereicherung.)

Die Hälfte der 248 Verwaltungsleiter wird entlassen. Die Zahl der Manager wird von zehn auf fünf reduziert. Ich bin aber überzeugt, und viele Menschen denken so, dass Reformen vor allem bei Justiz, Polizei und Militär nötig sind. Korruption und Nepotismus sind die größten Probleme in unserem Land.

Das russisch geführte Militärbündnis OVKS war an der Wiederherstellung der Ordnung beteiligt. Wie stehen Sie dazu?

Wir hatten überhaupt keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Das war eine schnelle Reaktion des Präsidenten, er hat der Situation entsprechend gehandelt. Die Leute hier wollen keinen russischen Einfluss.

Die Gründe dafür sind offensichtlich, aber nicht gegen das russische Volk gerichtet. Wir sind froh, dass sie schnell gekommen und schnell wieder gegangen sind. Wenn sie geholfen haben, unsere Infrastruktur zu schützen, ist das gut. Aber das Bündnis hat jetzt einen Freibrief im Falle von Protesten in einem anderen OVKS-Mitgliedsland. Und das ist wirklich sehr fragwürdig.

Was erwarten Sie sich für die Zukunft?

Ich fühle mich vollkommen fertig und deprimiert. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, wohin das Land steuert. Das politische Programm ist nicht klar. In der Regierung sind drei Viertel der Stellen von denselben Leuten besetzt wie vor den Protesten. Trotz alledem wollen wir weiter daran glauben, dass wir aus dieser Situation herauskommen. Wir werden all der Menschen gedenken, die einen Wandel in Kasachstan wollten und ums Leben kamen. Alles hängt von uns ab!

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.