- Politik
- Senioren im Ehrenamt
Eine Frage des Willens
Viele Menschen im hohen Alter engagieren sich in Ehrenämtern - und widersprechen damit dem Klischee, betagt und deshalb passiv zu sein
»Älter werden heißt, selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen.« Der kluge Ratgeber ist Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichter schrieb diese Zeilen wenige Jahre vor seinem 80. Geburtstag und hatte sich selbst entschieden - trotz der von ihm überlieferten neurotischen Furcht vor dem Sterben und dem Tod -, die für ihn neue Rolle des Älteren mit der ihm größtmöglichen Würde anzunehmen.
»Ich bin kein Theoretiker, sondern Praktiker«, sagt dagegen Wolfgang Rohrlack. Der 86-jährige Berliner zeigt bescheiden seine Werkstatt im Keller des Stadtteilzentrums Käte-Tresenreuter-Haus in Berlin-Charlottenburg. Die zumeist älteren Menschen, die hier ein- und ausgehen, nennen das schmucke, von mehreren Bäumen umsäumte Haus »das Schlösschen«. Wolfgang Rohrlack kam vor 20 Jahren zum ersten Mal her, um Bridge zu spielen. Heute ist der gelernte Ofenbauer mindestens zweimal in der Woche im Schlösschen und lebt hier seine handwerkliche Leidenschaft aus. Er übernimmt Reparaturen an der Terrasse oder am Schuppen und baut Vogelhäuschen und Ähnliches. »Was machbar ist, machen wir«, ist sein Credo.
Gerade während des ersten Pandemiejahres hat sich durch die besondere Fürsorge für die ältere Generation das Image verstärkt, es handle sich bei den nahezu sechs Millionen alten Menschen hierzulande vielfach um Hilfebedürftige. Dass dies pauschal nicht der Fall ist, schreibt sich die Stiftung ProAlter auf die Fahnen. »Hochaltrige Menschen bringen sich in großer Zahl in der Familie, in der Nachbarschaft und im Gemeinschaftsleben ein«, sagt Inge Hafner, Vorstandsmitglied der Stiftung. Sie organisiert auch große Veranstaltungen für Menschen im vierten Lebensabschnitt. Die bisher letzten Treffen liegen wegen der Corona-Pandemie schon eine Weile zurück. Hafner berichtet von 200 Teilnehmenden im Oktober 2018 im baden-württembergischen Ostfildern und gar 500 Teilnehmenden ein Jahr darauf im nordhessischen Hofgeismar. Ziel dieser kongressartigen Zusammenkünfte ist es, den sogenannten Hochbetagten gesellschaftlich einen Platz zu erarbeiten, »quasi eine bislang nicht ausgeleuchtete Altersgruppe sichtbar zu machen«, so Hafner. Und über ehrenamtliche Engagements für Über-80-Jährige zusammen mit Politikern und Experten nachzudenken.
In Hofgeismar lebt auch Christian Otto. Der umtriebige 82-Jährige arbeitet ehrenamtlich im Empfangsteam eines Pflegeheims mit 1200 Bewohnern in der Kleinstadt. Das Empfangsteam wurde im April 2021 vom ortsansässigen Pfarrer Rudolf Schmidt ins Leben gerufen, um an den Eingängen des Heims die Einhaltung der Corona-Regeln sicherzustellen. »Als Türsteher sehe ich mich aber nicht«, lacht Christian Otto. Und auch das Wort Kontrolle vermeidet er, wenn er über sein Engagement spricht. »Nahezu alle Besucher - ob nun Angehörige, Mitarbeiter von Fahrdiensten oder Apotheken sowie Ärzte - sind sehr freundlich und verständnisvoll«, betont der 82-Jährige. Er freut sich, dass er mit seinem Ehrenamt das Pflegepersonal entlasten kann. »Und nach der Schicht geht man nach Hause und sagt sich: Es war ein schöner Tag.«
Angefangen hat dieses Ehrenamt am montäglichen Stammtisch, wo der Pfarrer eines Tages fragte, wer denn mitmachen wolle. Der ganze Stammtisch war bereit, und jetzt teilen sich die Herren die Empfangsschichten im Heim mit weiteren Teammitgliedern.
Die pandemische Situation zehrt zweifellos an den Nerven aller. Kinder und Jugendliche leiden unter den Einschränkungen ebenso wie die Alten. »Das tut einem alles schon furchtbar leid«, sagt Christian Otto. Doch er fängt dieses Elend mit seinem feinen Humor gleich wieder etwas auf, indem er halbernst meint: »Man unterhält sich hinter der Maske und weiß manchmal gar nicht, ob es der Richtige ist, mit dem man spricht.« Hauptsache, der Humor gehe nicht verloren, meint er. Ansonsten müsse man es eben nehmen, wie es ist.
Eine Akzeptanz für das Älterwerden und ein ausgeprägter Wille scheinen wichtige Voraussetzungen zu sein, um auch im hohen Alter noch aktiv in der Gesellschaft mitgestalten zu können. Ebenso auffällig bei vielen Älteren, die sich sozial engagieren, sind Konstanten im Leben sowie eine Verwurzelung an einem Ort oder einer Region. Und natürlich braucht es ein wenig Glück, um von schweren Krankheiten oder Unfällen verschont zu bleiben.
Der Hesse Christian Otto zum Beispiel blickt auf eine 50-jährige SPD-Mitgliedschaft zurück und war auch 35 Jahre lang Betriebsratsmitglied bei Volkswagen in Kassel. Sozial engagiert ist der gelernte Bäcker seit seinen Zwanzigern, ob beim Sozialverband VdK oder ehrenamtlich bei der Berufsgenossenschaft. Später war er auch zwei Wahlperioden als Heimbeirat tätig und hat für die AG 60 plus der SPD in den vergangenen zehn Jahren an die 100 Veranstaltungen organisiert. »Es kommt eben auf die Einstellung an«, sagt er lapidar.
Die Einstellung ist auch Thema im Schlösschen, das vom Sozialwerk Berlin betrieben wird. »Man rafft sich auf und kommt hierher, auch wenn es mal schwerfällt«, sagt Ingrid Junkuhn. Die 88-Jährige schaut freundlich und zugewandt, man könnte denken, ihr fielen auch im hohen Alter noch nicht viele Dinge schwer. Sie wirkt agil, arbeitet ehrenamtlich an der Rezeption des Käte-Tresenreuter-Hauses und macht den Saaldienst. Dann bedient sie bei Veranstaltungen mit bis zu 150 Gästen am Tisch, fast so behände wie in jüngeren Jahren, als sie noch als Floristin arbeitete.
Ingrid Junkuhn wurde 1933 in Halle (Saale) geboren und wuchs dort bei ihren Großeltern auf. 1949 holte ihre Mutter sie nach Westberlin, und dort verbrachte sie dann ihr ganzes bisheriges Leben. 2005, da war sie 72, kam sie das erste Mal ins Schlösschen. »Eine Beziehung war beendet, ich saß in der Küche und hörte im Radio eine Sendung über das Käte-Tresenreuter-Haus«, erzählt sie. Das habe sie inspiriert.
Für die Motivation im Schlösschen ist Margit Hankewitz zuständig - und Lady, die zweieinhalbjährige Golden-Retriever-Dame, die als Maskottchen und Therapiehund immer mit dabei ist. Margit Hankewitz leitet das Sozialwerk Berlin in Charlottenburg seit 2013 und führt damit das Lebenswerk ihrer Eltern fort. Diese hatten den Verein vor 50 Jahren gegründet. Und das Käte-Tresenreuter-Haus gedieh zu einem Begegnungsort mit einer Atmosphäre zwischen gemütlichem Familienhotel und Seniorenresidenz. Unter größtmöglichem Coronaschutz inklusive Impfungen hielt die Chefin den Betrieb im Schlösschen während der gesamten Pandemie aufrecht. »Wir wollten auch während des Lockdowns weiter Anreize schaffen«, erklärt sie. Das Sozialwerk wurde als systemrelevant eingestuft, und es gab Luftfiltergeräte vom Senat.
Von der Leitung bis zur Küche arbeiten 90 hochaltrige Ehrenamtliche im Käte-Tresenreuter-Haus. »Es ist einfach ein Geben und Nehmen, und man bekommt immer Hilfe, wenn man sie braucht«, ist Ingrid Junkuhn dankbar für diesen Ort. Neben ihr sitzt, in ein farbenfrohes Jackett gekleidet, Irene Sauer. Die 81-Jährige könnte durchaus auch als 71-Jährige durchgehen, so viel Kraft strahlt sie aus. Auch sie lebt seit 75 Jahren in Westberlin, ins Schlösschen kommt sie seit 2007. Ihr Vater war hier bereits jahrelang in einer Männergruppe, daher kannte sie es schon. Und hier legt die ehemalige Erzieherin und Kita-Leiterin richtig los: Sie ist Lesepatin und Chorleiterin, macht Sport in der Turngruppe und Musik in der Keyboardgruppe. Nachdem ihr Vater, den sie lange gepflegt hatte, mit 94 Jahren starb, kommt sie viermal in der Woche her. Freitags hat sie auch noch Rezeptionsdienst und bringt sich außerdem allgemein in die Organisation des Hauses ein.
Irene Sauers gefühlte Jugend drückt sich auch in ihrem Interesse an Stadtentwicklung aus. Dazu hatte sie, nachdem sie in Rente gegangen war, sogar einen Studiengang für Senioren an der Technischen Universität belegt. Und sie besucht bis heute Computerkurse, um auf dem aktuellen Stand der digitalen Technik zu bleiben. Das kam gerade mit Beginn der Pandemie nicht nur ihr zugute, als man trotz des aufrechterhaltenen Präsenzbetriebs im Schlösschen doch auch mehr und mehr auf digitale Kommunikation umsteigen musste, um den so wichtigen Kontakt untereinander zu halten.
Es ist diese Begegnung mit Anderen und auch die Verantwortung für Andere und sich selbst, die das ehrenamtliche Engagement gerade im hohen Alter so wertvoll macht. »Bevor mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, gehe ich doch lieber raus und mache etwas«, sagt der 86-jährige Wolfgang Rohrlack. Auch wenn es ihm wie zurzeit gesundheitlich mal nicht so gut geht oder ihn die Trauer um seine erst kürzlich verstorbene Frau zu lähmen droht. »Selbsthilfe ist die Grundlage für jedes Ehrenamt«, fasst es Schlösschen-Chefin Margit Hankewitz zusammen.
Sich selbst zu helfen musste vor rund 200 Jahren auch Goethe erst lernen. Ihn trieb es noch mit stattlichen 74 Jahren, das war im Jahre 1823, der 19-jährigen Ulrike von Levetzov in Marienbad einen Heiratsantrag zu machen. Als die Teenagerin diesen jedoch höflich ablehnte, sublimierte er seine Begierde und schuf mit der Marienbader Elegie eines seiner berühmtesten Gedichte. Und übernahm damit doch noch »mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach« des Älterwerdens, wie er es zwei Jahre später selbst aufschreiben sollte.
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