Zur falschen Zeit am falschen Ort

Hunderte Prozesse gegen Demonstranten: In Kuba werden die Unruhen vom Juli juristisch aufgearbeitet

  • Andreas Knobloch, Havanna
  • Lesedauer: 4 Min.

Andy, oder »Keke«, wie ihn alle in seinem Viertel Centro Habana kennen, »ist kein schlechter Mensch, er ist kein Krimineller, er war nie im Gefängnis«, sagt ein befreundeter Nachbar, der selbst ungenannt bleiben möchte. »An jenem Tag war er auf einer Party hier um die Ecke.«

Gemeint ist der 11. Juli 2021. Damals gingen in mehreren Städten Kubas Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit zu protestieren. Dabei skandierten sie zum Teil regierungsfeindliche Slogans. Es waren die größten Proteste auf Kuba seit beinahe drei Jahrzehnten. Sie verliefen zumeist friedlich, mancherorts kam es auch zu Gewalt.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Keke, Mitte 30, ist nach Aussage seines Freundes eher zufällig da hineingeraten. Als die Leute auf der Party von dem Aufruhr erfuhren, seien sie auf die Straße. »Ausgerechnet ihn haben sie erwischt. Er war nie politisch. Klar hat er sich beschwert, wie es alle Kubaner tun. Aber er war nicht wirklich in irgendeinen Aktivismus verwickelt, er kennt keine Aktivisten, er weiß nichts über Politik ... Keke war jemand, der am Hafen Säcke geschleppt hat. Ein ruhiger Typ mit niedriger Schulbildung.«

»Ärmere Kubaner und Afrokubaner wie Keke waren unter den Demonstranten besonders stark vertreten«, sagt Alejandro de la Fuente, Geschichtsprofessor in Harvard und Kuba-Experte, gegenüber »nd«. Sie »sind die Hauptverlierer des kubanischen Staatskapitalismus, seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Viele Sektoren der kubanischen Wirtschaft arbeiteten nur noch in »harter Währung, zu der Afrokubaner viel weniger Zugang haben«. Die Regierung in Havanna dagegen macht den coronabedingten Einbruch des Tourismus und die US-Blockadepolitik für die schwere Wirtschafts- und Versorgungskrise verantwortlich.

Seit Juli sitzt Keke in U-Haft. »Er lebt in prekären Wohnverhältnissen, hat ein geringes Einkommen, kann sich keinen guten Anwalt leisten«, sagt sein Nachbar. Er habe anfangs versucht zu helfen. »Ich sagte der Mutter, sie solle zur Kirche gehen, denn die katholische Kirche berät und stellt Anwälte zur Verfügung, die die Fälle der Demonstranten betreuen.« Aber die Mutter habe zu viele eigene Probleme. Eine Interviewanfrage lehnte sie ab. »Keke wartet jetzt auf seinen Prozess, es wird eine Strafe von ein bis zwei Jahren gefordert.« Einzelheiten kenne er nicht, sagt der Freund.

Kubas Justiz und Medien haben sich zu den laufenden Gerichtsverfahren bislang bedeckt gehalten. Ende Januar äußerte sich die Generalstaatsanwaltschaft erstmals öffentlich. Wegen Vandalismus, Angriffen auf Behörden, Personen und Eigentum sowie schwerer Ruhestörung würden 710 Personen angeklagt, von denen 490 in Untersuchungshaft sitzen; 172 wurden bereits verurteilt. 55 der Angeklagten sind zwischen 16 und 18 Jahre alt. Hinzu kommen 27 Teilnehmer an den Protesten, die jünger als 16 Jahre und damit nach kubanischem Recht nicht strafmündig sind. Zehn wurden in Erziehungsinternate eingewiesen; 17 erhielten eine individuelle Betreuung in der Schule, hieß es.

Die Anklagen stützten sich »in allen Fällen auf die vorgelegten Beweise, darunter die Aussagen von Zeugen und Opfern, die fachkundige Analyse von in verschiedenen Medien veröffentlichten Videos und andere Aufnahmen, die es ermöglichten, die Beschuldigten bei Straftaten zu identifizieren, die den Tatbestand der öffentlichen Unruhen, der Anstiftung zu Straftaten, der Sachbeschädigung, des gewaltsamen Raubes, des Angriffs, der Sabotage und der Aufwiegelung erfüllen«, schreibt die Tageszeitung »Granma«. Zu möglichen Strafmaßen wurde bisher nichts bekannt. Laut Angehörigen von Angeklagten und Aktivisten, die die Prozesse verfolgen, würden in einzelnen Fällen bis zu 30 Jahre Gefängnis gefordert.

De la Fuente bemängelt, dass eine ernsthafte Prüfung von Beweisen nicht stattfinde und die meisten Anschuldigungen »rechtlich unhaltbar« seien. »Dennoch sitzen die meisten Angeklagten seit Monaten im Gefängnis und warten auf ihre so genannten Prozesse oder auf ihre Verurteilung. Weder die Presse noch Familienangehörige durften daran teilnehmen. Kurz gesagt, von ›Prozessen‹ zu sprechen impliziert Verfahrensgarantien, die hier ganz offensichtlich fehlen.«

Eine Kritik, die die kubanische Regierung vehement zurückweist. »Die USA sind sich sehr wohl bewusst, dass die derzeitigen Gerichtsverfahren in Kuba in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz und den international anerkannten Standards durchgeführt werden. Lügen, um Kubas vorbildliche Arbeit zum Schutz seiner Kinder zu schmälern und kriminelle Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen«, twitterte Kubas Außenminister Bruno Rodríguez dieser Tage.

»Keke hätte an diesem Tag nicht mitmachen dürfen, er hat mitgemacht und wurde erwischt«, sagt sein Freund. »Und man weiß ja: alle in denselben Sack.« Soll heißen: Die Regierung behandele alle Inhaftierten als von den USA gesteuerte Provokateure. »Ein harter Fall, er ist mehr Opfer als Täter, da er nichts mit Politik zu tun hat. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -