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Kadyrow will Regimegegner enthaupten
Tschetscheniens Oberhaupt entfacht Hetzjagd gegen Familie des Menschenrechtlers Abubakar Jangulbajew
Die Bilder aus Grosny wirken verstörend: Tausende junge und ältere Männer, die Köpfe mit der religiösen Pjas-Mütze bedeckt, trugen am Mittwoch Plakate mit den durchgestrichenen Porträts des Menschenrechtlers Abubakar Jangulbajew und seiner Familie durch die tschetschenische Hauptstadt. Im Zentrum angekommen, zertrümmerten sie die mit dem Schriftzug Schande überschriebenen Transparente, droschen mit Stangen auf diese ein und sprangen auf den zerfetzten Bildern herum. Die Reste der Fotos wurden verbrannt. Der tschetschenische Großmufti, der Sprecher des Parlaments und andere Größen der Republiksführung forderten in Ansprachen einen Prozess gegen die Jangulbajews. Diese verletzten die Gefühle der Gläubigen und unterstützten Terroristen. Abubakar Jangulbajew müsse aufgespürt und nach Tschetschenien ausgeliefert werden. Auch die Journalistin Jelena Milaschina, der TV-Sender Doschd, die Zeitung »Nowaja Gaseta« – die zuvor über die Repressionen gegen Jangulbajew berichteten – gehörten vor Gericht. Ebenso müsse Igor Kaljapin, Vorsitzender des Komitees gegen Folter, in dem sich Jangulbajew engagiert, belangt werden.
Die Menge schloss sich den Forderungen mit lauten »Allahu Akbar«-Rufen an. An der trotz strenger Corona-Auflagen durchgeführten Großveranstaltung nahmen nach Angaben des tschetschenischen Fernsehens mehr als 400 000 Menschen teil. Andere Beobachter schätzen die Zahl der Teilnehmer auf etwa 30 000 Demonstranten, meldete der US-amerikanische Sender Radio Swoboda.
Die riesige Kundgebung ist Teil einer öffentlichen Hetzjagd, die Republikchef Ramsan Kadyrow gegen die Jangulbajews angezettelt hat. Kurz vor dem Aufmarsch in Grosny hatte der tschetschenische Duma-Abgeordnete Adam Delimchanow auf Instagram zum Mord an der Familie aufgerufen. »Wisset, dass wir euch Tag und Nacht verfolgen werden, ohne Leben, Besitz und Nachkommen zu schonen, bis wir euch den Kopf abschlagen und euch töten. Zwischen uns besteht Feindschaft und Blutrache«, so das Mitglied der Regierungspartei Einiges Russland auf Tschetschenisch. Wer die Ansprache ins Russische übersetze, werde ebenfalls seinen Kopf verlieren, drohte Delimchanow, der als rechte Hand Kadyrows gilt. Sieben hochrangige tschetschenische Beamte – darunter der tschetschenische Vize-Regierungschef – schlossen sich dem Mordaufruf mit einem eigenen Clip an. Man werde nicht ruhen, bis die Jangulbajews gefunden und geköpft würden.
Doch was steht hinter den massiven Drohungen? Warum versteigt sich der allmächtige Republikchef zu mittelalterlich anmutenden Gewaltfantasien? Dafür gibt es mehrere Gründe: Einerseits verfolgen sie die Familie des 29-Jährigen, da er auch nach seiner Flucht aus Tschetschenien im vergangenen Februar weiter für das Komitee gegen Folter Menschenrechtsverletzungen in der Kaukasusrepublik aufklärt.
Wichtiger dürfe indes ein anderer Grund sein: Kadyrow vermutet Abubakar Jangulbajew hinter dem oppositionellen Telegram-Kanal 1ADAT, der immer wieder Interna aus dem Umfeld der tschetschenischen Führung durchsticht, als wichtigste unabhängige Informationsquelle der Kaukasusrepublik gilt und oft über Folterfälle und Entführungen berichtet. So verbreitete 1 ADAT auch ein Video, welches ursprünglich vom oppositionellen Telegramkanal Security Turkey stammt. Der Clip versetzte Ende des vergangenen Jahres Kadyrow in helle Aufregung. Die Aufnahmen zeigt, wie ein tschetschenischer Sicherheitsbeamter – offensichtlich von Regimegegnern – in der Türkei brutal verprügelt wird. Das Land am Mittelmeer ist bei tschetschenischen Sicherheitskräften als Urlaubsort sehr beliebt. In der Türkei lebt aber auch eine große tschetschenische Diaspora, die Kadyrow feindlich gegenübersteht.
Ramsan Kadyrow reagierte auf das Video, das erst durch 1 ADAT wirklich bekannt wurde, auf gewohnte Art: Zuerst ließ er im vergangenen Dezember 40 Verwandte Jangulbajews festnehmen. Dann ließ er vor zwei Wochen Jangulbajews Mutter Sarema Musajewa aus Nischni Nowgorod nach Tschetschenien entführen. Die 53-jährige Diabetikerin wurde in Grosny vorerst zu zwei Monaten Haft verurteilt. Der Grund: Sie soll einen Beamten bei der Festnahme gekratzt haben. Sie verzichte auf die Hilfe eines Anwalts, meldete das tschetschenische Fernsehen. Ihre Familie bezweifelt das. Musajewas Ehemann Sajdi Jangulabajew floh nach ihrer Verschleppung mit der gemeinsamen Tochter aus Russland.
Die Wurzeln von Kadyrows Rachefeldzug gegen die Jangulbajews reichen indes weiter zurück. Nach Recherchen Jelena Milaschinas von der »Nowaja Gaseta« begann alles im November 2015: Damals ließ das tschetschenische Innenministerium Sajidi Jangulbajew und seinen jüngsten Sohn Ibragim – Abubakars Bruder – verhaften und in Ramsan Kadyrows Palast bringen. Ibragim hatte zuvor den Telegram-Kanal »Credo der Wölfe« gegründet, welcher sich um den Ersten Tschetschenienkrieg dreht die großen Opferzahlen auf tschetschenischer Seite beklagt. Der Inlandsgeheimdiens FSB betrachtet solche Kanäle äußerst argwöhnisch. Das Verhör im Präsidentenpalast sei eskaliert, schreibt Milaschina. Kadyrow persönlich soll Ibragim mit einem Plastikrohr blutig geschlagen haben. Dieser sei auch mit Stromstößen gefoltert worden. Sein Vater Sajdi Jangulbajew, damals Richter am Obersten Gericht Tschetscheniens, unterschrieb daraufhin ein Rücktrittsgesuch. Im Jahr 2019 floh die Familie aus Tschetschenien. Ein Jahr später entstand der Telegram-Kanal »1ADAT«.
Die Nachricht von den öffentlichen Todesdrohungen gegen die Jangulbajews rief in Russland Entsetzen hervor. Der Kreml müsse sich umgehend einschalten, forderte am Mittwoch Alexej Wenediktow, Chef des liberalen Radiosenders Echo Moskwy. Die von Kadyrow bedrohte »Nowaja Gaseta« und der Internet-TV-Sender Doschd schlossen sich der Forderung an.
Dmitri Peskow antwortete noch am selben Tag. »Dazu ist mir nichts bekannt«, reagierte der Kremlsprecher auf die Forderung nach einem Treffen. »In der Planung ist nichts vorgesehen«, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Ria Novosti. Dafür erklärte das Ethik-Komitee der Duma sich am Mittwoch bereit, die Morddrohungen von Adam Delimchanow zu überprüfen. Dafür müsse ein entsprechender Antrag eingehe, so Wasssili Piskarjow, der stellvertretende Vorsitzende des Komitees.
Trotz aller Abwiegelei: Am Donnerstag berichteten unabhängige Medien von einem »Geheimtreffen«. Demnach soll Präsident Wladimir Putin mit Kadyrow am Vorabend zu einem »Arbeitstreffen« zusammengekommen sein, wie der Pressedienst des tschetschenischen Republikchefs meldete. Man habe unter anderem über Investitionen und Corona gesprochen. Der Jangulbajew-Fall taucht in der Meldung aus Grosny nicht auf. Der Kreml bestätigte das Treffen nicht.
Wahrscheinlich beschränke sich der Kreml auf eine öffentliche Rüge Kadyrows, prognostiziert der Politologe Abbas Galjamow auf Telegram. Der Kreml habe wie in den 1990er Jahren den Einfluss auf die tschetschenische Innenpolitik verloren.
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