- Wirtschaft und Umwelt
- Wohnungspolitik in Frankreich
Mangelware bezahlbarer Wohnraum
Vier Millionen Menschen in Frankreich müssen in einer unzumutbaren Wohnung leben
Am vergangenen Mittwoch wurde der jüngste Bericht der Stiftung Abbé Pierre über die Wohnverhältnisse der Franzosen veröffentlicht. Dieser zieht eine äußerst kritische Bilanz der Wohnungspolitik während der Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron. Direkt nach seinem Amtsantritt hatte der auf diesem Gebiet ein negatives Zeichen gesetzt: Macron kürzte das Wohngeld, auf das ohnehin nur die ärmsten Familien Anspruch haben, pauschal um fünf Euro im Monat.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Für den einzelnen Betroffenen sei das nicht viel, während es sich für den Haushalt auf Hunderte Millionen Euro summiere, kalkulierte Macron seinerzeit. Diese Entscheidung hat er nach eigenem Eingeständnis schon oft bereut, aber sie bleibt als dicker Minuspunkt in seiner Bilanz und hat sicher viel zu seinem Ruf unter links gesinnten Franzosen beigetragen, er sei ein »Präsident der Reichen«. Dies umso mehr, als er 2017 auch sehr schnell die »Reichensteuer« ISF abschaffte, die der linke Präsident François Mitterrand in seinem ersten Amtsjahr 1981 eingeführt hatte.
Dem jetzt vorgelegten Bericht der Stiftung Abbé Pierre zufolge leben zwölf Millionen Menschen, also etwa jeder fünfte Franzose, in unbefriedigenden oder prekären Wohnverhältnissen. Davon haben vier Millionen eine »schlechte und eigentlich unzumutbare« Wohnung oder gar keine eigene Unterkunft und leben in Notaufnahmeheimen oder auf der Straße. Die Zahl der Obdachlosen wird heute auf 300 000 geschätzt und hat sich damit in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Um den rasante Anstieg der Mieten zu stoppen, hat Präsident Macron zu Beginn seiner Amtszeit einen »Schock durch Angebot« angekündigt, doch der ist ausgeblieben - die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt geht weiter. Den Berechnungen der Stiftung zufolge haben sich die Ausgaben der französischen Familien für ihre Wohnung in den letzten 20 Jahren um 150 Prozent erhöht.
Der Bericht führt diese Entwicklung darauf zurück, dass das Wohnungsproblem keine Priorität für die gegenwärtige Regierung wie auch für ihre Vorgänger hatte: Es fehlt an einer Leitlinie und am politischen Willen, der Wohnungsmisere entschlossen ein Ende zu bereiten. Die Folge ist dem Bericht zufolge, dass die Zahl der Familien, die meist schon seit vielen Jahren auf eine Sozialwohnung warten, von 1,9 Millionen im Jahr 2017 auf heute 2,2 Millionen gestiegen ist.
Das sei kein Wunder, denn die Staatsausgaben für sozialen Wohnungsbau sind stetig zurückgegangen, von 1,82 Prozent des Bruttoinlandprodukts im Jahr 2017 auf 1,63 Prozent im Jahr 2020. Der Sektor musste immer wieder herhalten, wenn es galt, im Staatshaushalt anderweitige Lücken zu stopfen. Entsprechend werden nicht mehr Sozialwohnungen gebaut - wie es nötig wäre -, sondern immer weniger. So waren es im Jahr 2016 noch 124 000 und im vergangenen Jahr nur 95 000.
Dabei sieht seit 2000 das Gesetz über urbane Solidarität SRU vor, dass alle Städte und Gemeinden in Frankreich mit mehr als 3500 Einwohnern verpflichtet sind, bei Baugenehmigungen so viele neue Sozialwohnungen vorzusehen, dass deren Anteil innerhalb der Kommune mindestens 20 Prozent beträgt.
Doch während in lange links regierten Pariser Vorstädten dieser Anteil oft 40 oder gar 60 Prozent beträgt, werden in 550 Kommunen diese Vorgaben längst nicht erreicht. Oft reden sich die Bürgermeister damit heraus, dass keine geeigneten Baugrundstücke vorhanden seien. Andere, vor allem an der Côte d’Azur und in anderen begehrten Wohngegenden, ziehen den Bau von Luxuswohnbauten vor und zahlen lieber aus der Stadtkasse die im Gesetz bei Nichteinhaltung der Quote vorgesehene Strafe.
Um Wohnraum wieder bezahlbar zu machen und in ausreichendem Umfang neuen zu schaffen, fordert die Stiftung Abbé Pierre von der Regierung eine Deckelung der Mieten sowie entschieden mehr Geld und flankierende politische Maßnahmen für den sozialen Wohnungsbau.
Die Stiftung Abbé Pierre setzt das Werk des 2007 verstorbenen Kapuzinermönchs fort, dessen Namen sie trägt. Er stammte aus einer reichen Fabrikantenfamilie, hatte sein Leben aber den Ärmsten geweiht und sein Erbe unter sie verteilt. Während der Besatzung war er in der Résistance aktiv, wo er Papiere fälschte, um Juden und anderen Verfolgten die Flucht ins Ausland zu ermöglichen. Nach dem Krieg gründete er die Hilfsorganisation Emmaüs, die sich vor allem um Obdachlose kümmert.
Auf deren Schicksal machte er im besonders harten Winter 1953/54 in einer mitreißenden Rundfunkrede aufmerksam, die eine Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung auslöste und deren Druck die Regierung veranlasste, ein milliardenschweres Programm für den Bau von Sozialwohnungen aufzulegen. Neben ihrer tagtäglichen Hilfstätigkeit für Obdachlose verfolgt die Stiftung die Lage auf dem Wohnungsmarkt und veröffentlicht in regelmäßiger Folge ihre Analysen über die Wohnverhältnisse der Franzosen.
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