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Was von der Kubakrise geblieben ist
Sowjets haben 1962 Atomraketen auf der Karibikinsel versteckt, sie wurden aber entdeckt. Heute erinnern Ruinen an den Konflikt
An den Verkaufsbuden am Ortseingang von San Cristóbal ist nur wenig los. In Havanna erzählt man sich Schauergeschichten über die Versorgungslage auf dem Land, aber das Angebot auf dem Markt ist gut: Tomaten, Okra, Süßkartoffeln, Yuca, was es um diese Jahreszeit eben so gibt; ein anderer Stand bietet Süßes und Limonaden an, sogar Äpfel sind im Angebot. Am Fleischstand liegt ein ganzer Schweinekopf in der Auslage, für den sich bis auf die Fliegen aber niemand interessiert.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
San Cristóbal liegt gut anderthalb Autostunden südwestlich von Havanna. Vor 60 Jahren war der kleine Ort für kurze Zeit im Zentrum der Weltpolitik. Damals machten US-amerikanische Aufklärungsflugzeuge Luftaufnahmen, auf denen in der Nähe von San Cristóbal errichtete Abschussrampen für sowjetische Mittelstreckenraketen zu erkennen waren. Dies löste die Kubakrise zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion aus. Zwei Wochen lang stand die Welt im Herbst des Jahres 1962 am Rande eines Atomkriegs.
Heute hat die kleine Ortschaft mit der großen Politik nicht mehr viel zu tun. Motorräder und Fahrräder zuckeln vorüber, ein Pferdefuhrwerk sammelt Fahrgäste ein, an der Tankstelle döst ein Hund im Schatten. Ein Uniformierter außer Dienst begutachtet die Auslagen und macht dabei ein Gesicht, als hätte er mit dem Kaffee eine Fliege verschluckt. »Raketensilos hier in der Gegend?« Der Mann zuckt mit den Schultern. Auch die anderen Marktbesucher hören scheinbar zum ersten Mal von den Raketen. Aber gut, die Sorgen hier sind andere: die schlechte Versorgungslage und die galoppierenden Preise. Vielleicht lässt sich im Städtischen Museum etwas zu den Raketen in Erfahrung bringen, schlägt einer der Händler vor.
Das Museum im Ortskern verfügt über eine kleine Sammlung zur Stadthistorie und Kunstgewerbe: Porzellan und Möbel aus dem 19. Jahrhundert, Waffen, Werkzeuge. Eine Schautafel erinnert an die Cimarrones, entlaufene Sklaven, die sich in den Wäldern und Höhlen rund um San Cristóbal versteckten, eine andere an eine Schlacht zur Zeit der Unabhängigkeitskriege. Im letzten Raum dann endlich ein Hinweis auf die Kubakrise: drei Fotos von Luftaufnahmen der Raketenstellungen um San Cristóbal durch US-Aufklärungsflugzeuge. Der entscheidende Moment, der zur Kubakrise führte. Zwei Tage nach den Aufnahmen, am 16. Oktober 1962, wurde US-Präsident John F. Kennedy informiert; am 22. Oktober verkündete er eine Seeblockade Kubas. Es folgten angespannte Tage.
Es gebe ein gemeinsames Forschungsprojekt zur Kubakrise mit der Uni Göteborg, erzählt Museumsführerin Claudia Zamora. Auch finde jedes Jahr zum Jahrestag am 27. Oktober eine Parade statt. Ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein sind die sowjetischen Raketen also doch nicht verschwunden. Auch lassen sich in der Umgebung noch Spuren der Raketensilos und Abschussrampen finden, sagt die junge Frau. Die seien frei zugänglich, man müsse allerdings etwas nach ihnen suchen.
Weltgeschichte in der Provinz
Mit einer ungefähren Wegbeschreibung geht es nach Santa Cruz de los Pinos, ein verschlafenes Nest, rund zehn Kilometer von San Cristóbal entfernt. Dort haben Laternenpfähle oder sogar Häuser versetzt werden müssen, um die Straße zu erweitern, damit die 22 Meter langen Raketen durchgekommen seien, hat Zamora erzählt.
Etwas außerhalb der Ortschaft weist ein angerostetes Schild den Weg: »1500 Meter von hier wurde 1962 eine sowjetische R-12-Mittelstreckenraketengruppe stationiert.« Die asphaltierte Straße endet hier. Weiter geht es auf roterdiger Buckelpiste. Wie hier einmal unfallfrei palmenlange Raketen mit Atomsprengköpfen transportiert worden sein sollen, bleibt ein Rätsel. Der Ritt durch die Schlaglöcher endet an einer Finca, deren Besitzer sich sichtlich freut, dass mal jemand vorbeischaut. Die »Finca Balestena« ist eine halbe Caballería groß, also 7,5 Hektar, und hat 900 Mangobäume, erklärt José Testón. Darüber hinaus baut der 68-Jährige Süßkartoffeln, Yuca, Bananen und Tomaten an. Eine festgelegte Menge muss er dem Staat liefern, den Überschuss darf er selbst verwerten.
Seit 23 Jahren lebt er hier; die Stationierung der Raketen hat er also nicht selbst miterlebt. Testón weist auf eine kleine Hütte aus Palmblättern neben seinem Haus. Der steinerne Bogen um die Hütte war einst Teil eines Raketensilos. Sollte das schon alles sein? Nein, es gebe noch mehr zu sehen, sagt Testón und führt in ein kleines Waldstück unweit des Hauses zu einem Haufen ineinander verschränkter Betonteile. Hier hätten einmal die Treibstoffsilos gestanden, sagt er. Einige der auf dem Boden liegenden Betonbögen könnte ein natürliches Gehege abgeben. Der Parteisekretär aber habe ihm verboten, darin Schweine zu halten, sagt Testón. Daran hält er sich. Vielmehr sei seine Aufgabe, den Ort in Schuss zu halten.
Vor der Pandemie seien immer mal wieder Touristen aufgetaucht: Russen, Amerikaner, Deutsche. »Man wollte Schirme aufstellen; ich sollte Mangos verkaufen«, erzählt er. Aber mit Trump und dann der Pandemie sind die Besucher ferngeblieben. Tatsächlich kann man sich Sonnenschirme und einen Mango-Verkaufsstand in dieser abgelegenen Finca auch nur schwer vorstellen.
Ebenso, dass hier einmal sowjetische Mittelstreckenraketen vom Typ R-12 stationiert waren - bestückt mit um ein Vielfaches stärkeren Sprengköpfen als die Hiroshima-Bombe. Zu den früheren Abschussrampen am Fuß des Hügels sind es zehn Minuten Fußweg durchs Unterholz. Auf einer Lichtung markiert ein Betonblock eine der vier Startpositionen einer R-12-Rakete. Die sei in der Lage gewesen, Washington zu erreichen, erzählt der kanadische Militärexperte Hal Klepak später. Der in Kuba lebende emeritierte Professor für Geschichte und Strategie am Royal Military College of Canada ist Sohn eines Diplomaten, der im letzten Jahr der Batista-Regierung und in den ersten beiden Jahren der Revolutionsregierung in Kuba diente.
Klepak erinnert an die Ausgangslage zu Beginn der 60er Jahre: »Fidel war 1959 gerade an die Macht gekommen und hatte anfangs keine Verbindung zur Sowjetunion. Aber er wird in diese Richtung getrieben, insbesondere als im März 1960 der Frachter La Coubre im Hafen von Havanna mit ziemlicher Sicherheit von der CIA gesprengt wird. Die Schweinebucht-Invasion 1961 ist von entscheidender Bedeutung, denn jetzt sieht Fidel, dass die Amerikaner nicht nur gekommen sind, um einzumarschieren und ihn zu stürzen, sondern dass sie, nachdem sie gedemütigt und besiegt wurden, mit ziemlicher Sicherheit bereit sind, noch viel weiter zu gehen.« Nach anfänglichem Zögern akzeptierte Fidel Castro die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen als Schutz vor weiteren militärischen Abenteuern der USA.
Kubas Staatschef wollte eine öffentliche Stationierung, aber Nikita Chruschtschow entschied sich für ein heimliches Vorgehen, um keine große Krise mit den USA zu provozieren, so Klepak. Moskaus Plan war, die Raketen an ihren Platz zu schmuggeln und dann die Welt über ihre Anwesenheit zu informieren. Testón glaubt, dass die Raketen deshalb hierher gebracht wurden »Wenn Du das machst, wo viele Leute leben - einer redet immer«, sagt er. Aber das war gar nicht nötig; bald schon entdeckten US-Aufklärungsflugzeuge die Raketen.
Ein paar Kilometer weiter, in der Nähe der Ortschaft Los Palacios, gebe es noch intakte Silos, sagt Testón, allerdings lägen die auf militärischem Sperrgebiet. Ein Hubschrauber steht dort und ein Flugzeugrumpf, dazu verlassene Baracken - der Ort erinnert an eine Geisterstadt. Von Raketensilos aber zunächst keine Spur. Bis 2015 war das Gelände eine aktive Militärbasis, seitdem wird es von der staatlichen Unternehmensgruppe Flora y Fauna verwaltet. Die ist in Kuba für den Erhalt und die Entwicklung der biologischen Vielfalt verantwortlich.
Elf Raketensilos gab es hier einmal, sagt Luís Alberto Caravallo, der Direktor des Geländes, während einer kurzen Rundfahrt. Der gelernte Veterinär ist seit 30 Jahren bei Flora y Fauna; seit drei Jahren lebt er auf dem Areal. Er betreibt eine kleine Bäckerei, welche die Ortschaften der Umgebung beliefert und kämpft ansonsten gegen den Verfall des riesigen Geländes. Von den ehemals elf Silos ist nur eines erhalten; eine Miniaturrakete und das Modell eines Atomsprengkopfs erinnern an die Kubakrise.
Die erreichte ihren Höhepunkt am 27. Oktober 1962, als ein amerikanisches Spionageflugzeug über Kuba abgeschossen wurde. Der Pilot starb, Kennedy untersagte einen Gegenangriff und wiederholte seine Verhandlungsbereitschaft. Was die USA damals nicht wussten: Die Sowjetunion hatte 100 taktische Atomraketen nach Kuba geschickt. Eine Invasion hätte wohl deren Einsatz und damit eine atomare Kettenreaktion ausgelöst. Entscheidend war, dass beide Seiten kühlen Kopf bewahrten. Zwei Tage später erklärte sich Chruschtschow bereit, die Raketen abzuziehen, und Kennedy verpflichtete sich, nicht in Kuba zu intervenieren. In aller Stille erklärten sich die USA bereit, ihre auf die UdSSR gerichteten Raketen aus der Türkei abzuziehen. Die Welt atmete auf.
Kubas Empörung
Doch in Kuba mischte sich diese Erleichterung mit Empörung »darüber, dass die Sowjets sie einfach im Stich gelassen haben«, sagt Klepak. »Nicht nur, dass Kuba nicht eingeladen wurde, den Gesprächen zur Lösung der Krise beizuwohnen; die anschließenden Vereinbarungen wurden Fidel überhaupt nicht übermittelt, außer der Abschlusserklärung mit den Beschlüssen.« Castros eigene Forderungen, darunter die Beendigung der US-Blockade gegen Kuba und die Rückgabe von Guantanamo, wurden ignoriert. Den Beteuerungen der USA, nicht in Kuba einzumarschieren, habe Havanna ohnehin nicht getraut, sagt Klepak. Das Abkommen »führte zu sechs Jahren recht unangenehmer Beziehungen zwischen Havanna und Moskau, in denen Kuba zwar weiterhin Unterstützung erhielt, aber eine herzliche Beziehung zwischen Chruschtschow und Fidel gab es nicht«.
Ist das der Grund, warum in und um San Cristóbal kaum russische Bezeichnungen auf die frühere sowjetische Präsenz verweisen? Einzig ein nach dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gargarin benannter landwirtschaftlicher Betrieb ist auf dem Weg zurück nach Havanna zu entdecken.
Was also bleibt? »Die USA sind nicht in Kuba einmarschiert. Sie haben alles andere versucht: Subversion, Sabotage, Staatsterrorismus, Wirtschaftskrieg, um die Regierung in Havanna zu entmachten - ohne Erfolg«, sagt Klepak. »Was 60 Jahre später von dem Abkommen übrig geblieben ist, kann man als ziemlich beeindruckend bezeichnen: Kuba ist immer noch da.«
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