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Die wütende Doppelgängerin
Spaß und Verantwortung: Wie man in den Spiegel schaut und die Wut besiegt
Ich war ein sehr cholerisches Kind. Ständig lag ich - keiner wusste genau, warum - vor Wut heulend auf irgendwelchen Fußböden und schlug abwechselnd auf mich selbst und den jeweiligen Boden ein. Meine Eltern waren ratlos: Woher kam dieser fast göttlich wirkende, weil ursachenlose Zorn? Sie zogen verschiedene Erziehungsratgeber zu Rate und fanden zwar nicht viel Relevantes zu den Gründen für kindliche Wutanfälle, stattdessen jedoch einen Trick, wie diese zu bekämpfen wären.
Es war eine sehr konkrete Strategie, die man spontan, im Moment, anwenden konnte. Das heulende, wütende Kind musste, wenn es sich gerade auf der Spitze seiner Verzweiflung befand, vor einen Ganzkörperspiegel gestellt werden. Der Anblick des eigenen zur Fratze verzerrten Gesichts sollte eine Distanz zu dem ausbruchartigen Zustand herstellen - die »Dinge« für das Kind »wieder ins rechte Licht rücken«.
Ich erinnere mich gut an den Anblick meiner verheulten, verzogenen Fresse - und daran, wie ich mir selbst dabei zuschaute, wie ich langsam wieder zu mir kam. Die Szene muss sich häufig wiederholt haben. Ich war buchstäblich »außer mir«; das Spiegelbild zeigte meine verrückte Doppelgängerin, die Stück für Stück, erschreckt von ihrem eigenen Gesicht, wieder verschwand. Je mehr ich mich beruhigte, desto mehr wuchs meine Scham über den Ausbruch - und wenn ich mich im Spiegel wiedererkannte, begann der Walk-of-Shame, die lange Entschuldigungsrunde, mea culpa.
Wenn ich an Spiegel denke, dann denke ich natürlich sofort an die Psychoanalyse, denn Psychoanalytiker*innen haben ja leidenschaftlich Theorien zum Spiegeln aufgestellt. Für Jacques Lacan zum Beispiel stellt der Blick in den Spiegel die Illusion der Ganzheit des eigenen Körpers her - der in Wirklichkeit nie als Ganzes zu erfassen ist, sondern ein Konglomerat aus Einzelteilen, aus unzusammenhängenden Extremitäten.
So fühle ich mich manchmal auch, wenn ich besoffen bin: wie ein Haufen Organe ohne Körper. Und je nüchterner ich werde, desto mehr wachsen meine Gliedmaßen wieder zusammen, und meine Doppelgängerin verschwindet, der Walk-of-Shame beginnt - mea culpa, »ich war ja gar nicht ich selbst, ich war ja besoffen«. Wenn man sehr betrunken ist, dann hat man oft Sehstörungen. Man sieht zum Beispiel verschwommen oder manchmal auch Sternchen, und ganz selten, wenn man wirklich äußerst betrunken ist, sieht man auch doppelt. Alle anderen im Raum haben dann also, plötzlich, auch ihre eigene betrunkene Doppelgängerin.
Ich habe ein einziges Mal eine Aufnahme eines Vortrags von Jacques Lacan gesehen - er trägt darin ein exzentrisch bedrucktes Seidenhemd, das anstelle eines Kragens eine große Schleife hat. Er macht irritierend lange Pausen beim Sprechen, mitten im Satz, so, als ob er die Botschaft erst zwischen den Worten empfangen würde, eine Nachricht aus anderen, nichtweltlichen Sphären - der Sprechende nur das Medium. Jeder Satz, den er auf diese Weise fabriziert, ist eine steile These, die er zwar nicht belegt, die er aber stattdessen mit cholerischer Energie in Richtung der allzu weltlichen Studierenden schleudert.
Aus seinen Augen spricht der Zorn Gottes, aber seine Sprache ist poetisch-enigmatisch. Er trägt eine rahmenlose Edward-Snowden-Brille, dazu eine in der Mitte abgeknickte Zigarre. Seine Stimme ist so gepresst, dass es sich manchmal so anhört, als würde er Rülps-Laute ausstoßen.
Jacques Lacan scheint also Inspiration aus seiner Wut gezogen zu haben - zumindest schien sie ihn zu befähigen, sehr dicke, rätselhafte Bücher zu schreiben und seine Theorien in Richtung junger, unbedarfter Menschen zu schmettern. Mein Zorn ist irgendwie verschwunden. Oder er hat sich transformiert und in andere Symptomatiken verwandelt. Vielleicht werde ich mir in Zukunft auch etwas weniger den eigenen Spiegel (der Scham) vorhalten und stattdessen schauen, was ich (beziehungsweise meine cholerische Doppelgängerin) mit meiner Wut so alles (positiv) anfangen kann - wütende Kolumnen schreiben, zum Beispiel.
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