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Die Kosten wären für Putin zu hoch
Katia Sophia Ditzler ist sicher, dass die russische Regierung keinen Einmarsch in die Ukraine veranlassen wird
In den sozialen Netzwerken geht es dieser Tage hoch her. Truppenbewegungen werden in Telegram-Gruppen – sie sind ein wichtiger, nicht zensierter Diskussionsraum in Osteuropa – in Echtzeit diskutiert. Die Menschen haben Angst. Nicht nur in der Ukraine, auch im oppositionellen Teil der Bevölkerung Russlands.
Es geht mir auch nicht darum, das Leid der ukrainischen Bevölkerung klein zu reden – die Menschen in dem Land tragen schwer an dem schon acht Jahre währenden Kriegszustand. Aber: Ich bin sicher, dass Putin seine Truppen nicht in die Ukraine wird einmarschieren lassen. Dies liegt nicht daran, dass die Bewegungen der russischen Armee in grenznahen Gebieten wirklich nur eine Militärübung wären. Russland ist Meister in der Strategie der »glaubhaften Abstreitbarkeit« von Befehlsketten (die Doktrin der »plausible deniability« wurde in den 1950ern von der US-Administration geprägt: Bei Rechtsbrüchen durch die CIA blieb die Suche nach Verantwortlichen meist erfolglos).
Dennoch geht es Putin in erster Linie darum, eine Drohkulisse aufzubauen. Russland ist zweifelsohne ein Aggressor. Aber die Sachlage ist komplexer als auf den ersten Blick erkennbar. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat der Westen es verpasst, Russland in die globale Staatengemeinschaft einzubinden. Was dort nicht vergessen wurde. Deswegen hört man in Russland oft den Satz: »Putin hat das Land von den Knien aufstehen lassen.« Deswegen empfanden viele den Einmarsch auf der Krim als Akt, der die Chuzpe Putins bewies. Endlich musste Russland wieder beachtet werden. Vielleicht nicht für seine kulturellen Errungenschaften, was wünschenswerter wäre, aber dafür für seine militärische performative Virilität. Allerdings: Putins Beliebtheit sinkt seit Jahren.
Klar ist aber auch: Der russische Präsident ist nicht wahnsinnig, sondern ein geopolitischer Schachspieler. Er ist ein Stratege, plant auf Jahrzehnte voraus. Die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen hat richtig erkannt, dass Putin sich darum bemüht, eine gute Verhandlungsposition zu gewinnen. Daher muss er den Westen glauben machen, dass ein Angriff jederzeit bevorsteht.
Ein Einmarsch in die Ukraine wäre aber ein ökonomisches Desaster. Die Okkupation der Krim war militärstrategisch sinnvoll, um die Stationierung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf viele Jahre hinaus auch bei weiterer Westausrichtung der Ukraine zu sichern. Die Besetzung war zwar ein propagandistisches Meisterstück. Sie war aber vor allem auch eines: teuer. Die wirtschaftlichen Folgen sind nicht überwunden. Sie sorgen nur deshalb nicht für größeren Unmut, weil die Okkupation der Krim erfolgreich als patriotische Rückführung der Halbinsel nach ihrer »Schenkung« an die Ukraine 1954 dargestellt werden konnte.
In jenen Frühlingstagen 2014 hatte der russische Propagandaapparat sehr viel Energie investiert, die Euromaidan-Proteste als faschistischen Putsch zu deklarieren. In diesem kleinen Zeitfenster war es möglich, die Krim einzunehmen. Es war klar, dass die ukrainische Armee dem nichts würde entgegensetzen können. Versorgungsschwierigkeiten, zu wenig Kriegsgerät, unausgebildete Soldaten, eine innenpolitische Krise. Das ist nun, nach acht Jahren Krieg, anders.
Auch eine Angliederung der Ostukraine würde Russland keinen strategischen Nutzen bringen. Außerdem sind diese Gebiete mittlerweile nicht mehr attraktiv. Früher war die Region relativ wohlhabend. Jetzt liegt die Industrie am Boden, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Eine Eingliederung eines wirtschaftlich schwächeren Gebietes – wie etwa die der DDR in die Bundesrepublik 1990 – ist mit hohen Kosten und großen Schwierigkeiten verbunden. Der Preis dafür wäre für Moskau aktuell zu hoch.
Die letzten Wochen zeigen vor allem eines: Man muss in größeren Zeiträumen denken. Dazu gehört auch, aktiver nach einer diplomatischen Lösung für den Ukraine-Russland-Krieg zu suchen. Ja, Russland ist kein Rechtsstaat und auf dem Weg zur Diktatur. Aber es ist auch falsch, die geopolitischen Interessen des Westens zu leugnen und nicht darüber zu sprechen, welche Signale die Nato aussendet. Klar ist: Russland fühlt sich bedroht. Und es ist irrelevant, ob dies berechtigt ist oder nicht. Möchte man eine politische Entspannung im gesamten Osteuropa, muss man bereit sein, Russland mittel- bis langfristig Russland eine Perspektive auf Augenhöhe zu bieten.
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