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Prozess wegen Drohschreiben
Verfasser von Briefen mit der Signatur »NSU 2.0« vor Gericht
Jahrelang haben Politikerinnen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens per E-Mail, SMS oder Fax Beleidigungen und Todesdrohungen erhalten. Betroffen waren ausschließlich Frauen. Gezeichnet waren die Schreiben mit dem Kürzel »NSU 2.0«, offenkundig eine Referenz an den Terror des »Nationalsozialistischen Untergrunds«. Das erste Schreiben dieser Art ging im August 2018 bei der Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız ein. Sie hatte im Münchner NSU-Prozess Angehörige der Mordserie als Nebenklageanwältin vertreten.
Rund dreieinhalb Jahre später beginnt diesen Mittwoch vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen einen 53-Jährigen. Er soll bis März vergangenen Jahres insgesamt 116 Drohschreiben verschickt haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm neben 67 Fällen von Beleidigung versuchte Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung, das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und öffentliche Aufforderung zu Straftaten vor. Zudem werden ihm Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften und ein Verstoß gegen das Waffengesetz zur Last gelegt.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Drohbriefe, die häufig im Stil behördlicher Schreiben oder von Gerichtsurteilen verfasst waren, unterzeichnete der Erwerbslose regelmäßig mit »Heil Hitler« oder nannte sich »SS-Obersturmbannführer«. Er drohte den Adressatinnen laut Anklage unter anderem damit, dass Familienangehörige »mit barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet« würden. Dabei soll er nicht frei zugängliche Daten der Betroffenen genannt haben.
Weil diese Daten von Computern der hessischen Polizei in Wiesbaden und Frankfurt abgerufen worden waren, richtete sich der Verdacht lange gegen einen ehemaligen Polizisten aus Bayern und seine Ehefrau sowie weitere Beamte. Als im April vergangenen Jahres der nun vor Gericht stehende Berliner als mutmaßlicher Täter präsentiert wurde, sah der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) die Polizei vollständig entlastet. Er teilte mit, der Verdächtige habe sich die persönlichen Daten seiner Opfer telefonisch bei der Polizei »erschlichen«, indem er sich als Kollege ausgab.
Der Angeklagte ist vorbestraft und wurde zuletzt 2014 verurteilt. Schon 1992 hatte er sich als Kriminalbeamter ausgegeben und wurde wegen Amtsanmaßung verurteilt. Auf seine Spur kamen die Ermittler nach eigenen Angaben durch akribische Ermittlungsarbeit vor allem in Internetblogs und -foren, die im April 2021 zur Identifizierung des Verdächtigen führte, der dann im Mai in Berlin verhaftet wurde.
Adressatinnen der Drohungen forderten unterdessen vollständige Aufklärung. In einer »nd« vorliegenden gemeinsamen Stellungnahme bezeichnen die Linke-Politikerinnen Janine Wissler, Anne Helm und Martina Renner sowie Anwältin Başay-Yıldız, Kabarettistin ldil Baydar und die Publizistin Hengameh Yaghoobifarah es als »Skandal«, dass die Ermittlungen nur gegen einen Verdächtigen geführt wurden: »Nach allem, was wir wissen, steht für uns jedoch fest: Der NSU-2.0-Komplex ist mit der Festnahme des Angeklagten nicht aufgeklärt.« Es gebe »zwingende Hinweise auf mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen«.
Druck zum Konformismus. Der Geist des Radikalenerlasses prägt Behörden und öffentlichen Dienst bis heute
Etliche in den Drohschreiben genutzte Daten stammten aus polizeilichen Abfragen in Hamburg und Berlin. Gerade mit Blick auf die polizeilichen Datenabrufe müsse weiter ermittelt werden, verlangen die Frauen in dem am Montag veröffentlichten Schreiben. Dies gelte besonders für noch offene Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte. Mit dpa
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