- Kommentare
- Housing First
Entbürokratisierung der Obdachlosenhilfe
Über Housing First als Gegenentwurf zum zersplitterten Hilfesystem
Housing First, also die bedingungslose Umsetzung des Rechts auf Wohnen für Wohnungs- und Obdachlose, bedeutet nicht nur, das Grundrecht für die Betroffenen vom - für sie im Praktischen bedeutungslosen - Paragrafen zu einem erlebbaren Anspruch zu machen. Es ist auch eine Kampfansage an die bisherige Antragsbürokratie bei Sozialleistungen, die sehr viel systemkonformes Verhalten und Geduld voraussetzt. Und somit eine große Leidensfähigkeit.
Bisher läuft es maximal frustrierend. Möglicherweise hat der Betroffene mit Hilfe eines Trägers sogar einen Mietvertrag ergattert. Dann dauert es aber so lange, bis die entsprechenden Leistungen bewilligt sind, dass der Vermieter keine Lust mehr hat. Trägerwohnungen sind zudem an Bedingungen geknüpft, auch hier geht es um Bewilligungen, einen abgesegneten Hilfeplan und so weiter. Und wenn der Betroffene nicht so kooperiert, wie es von ihm erwartet wird, ist er schon wieder raus aus der Maßnahme - und aus der Wohnung. Das passiert allzu oft und wiederholt sich gern mehrmals. Irgendwann landen die Menschen dann in der nächsten Maßnahme. Drehtüreffekt nennt sich das im Sozialwesen.
Bei Housing First bleibt auf jeden Fall die Wohnung, was viel Stabilität schafft, auf die aufgebaut werden kann. Zumal die reine Unterbringung in Unterkünften, wie sie bisher meist praktiziert wird, kein Schnäppchen für den Staat ist. Tagessätze von 25 oder 27 Euro sind üblich. Also 750 Euro für eines von meist mehreren Betten in einem Zimmer. Wegen der verschiedenen Zuständigkeiten von Bund, Ländern und deren Behörden, sowohl finanzieller als auch praktischer Art, erleben die Betroffenen ein schlechtes System, das auch noch teurer für den Steuerzahler ist, als es sein müsste.
Ohne Housing First wird das Ziel der Europäischen Union und auch des Berliner Senats, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, nicht erreichbar sein. Und ohne eine pragmatische gesetzliche und finanzielle Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Beteiligten der öffentlichen Hand wird Housing First nicht zu erreichen sein.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.