Viel Interpretationsspielraum bei den Grenzen

Die Anerkennung der beiden selbst ernannten Volksrepubliken birgt für die Ukraine nicht nur das Risiko, dass Russland im Donbass nicht stehenbleibt

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir haben keine Zeit für lange Geschichtsstunden. Daher werde ich gleich über die Realität und über die Zukunft reden«, begann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Nacht auf Dienstag seine Rede an die Nation. Das war nicht nur eine Reaktion auf das Dekret des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Anerkennung der selbst ernannten Separatistenrepubliken im Donbass, sondern auch eine Anspielung auf die in geschichtlichen Aspekten fragwürdige Rede Wladimir Putins, die mehr als eine Stunde dauerte.

Doch während Selenskyj nicht zuletzt aufgrund seines Comedy-Backgrounds stets versucht, selbst in Krisensituationen gute Laune zu behalten, ist die Lage für die Ukraine ernst. Die russische Entscheidung, die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anzuerkennen, hat für die Ukraine nicht nur Nachteile. Der von Selenskyj angesprochene und aus der Anerkennung folgende Austritt Russlands aus dem Minsker Friedensabkommen vom Februar 2015 bedeutet unter anderem auch, dass die Ukraine ungünstige Vereinbarungen nicht mehr umsetzen muss.

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Das Abkommen sollte eine Art Road Map für die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete in den ukrainischen Staat darstellen. Dies sollte aber erst nach Kommunalwahlen geschehen und mit der Erteilung eines Sonderstatus für die Gebiete verbunden sein. Doch sah die Ukraine den Plan, dass sie die Kontrolle über die russisch-ukrainische Grenze erst nach der Austragung der Wahl bekommen sollte, schon immer kritisch. Denn Russland versucht schon lange, die Gebiete enger an sich zu binden. Seit Frühjahr 2019 gab Russland dort rund 800 000 Pässe aus, zudem läuft die faktische politische und wirtschaftliche Integration nach Russland immer weiter. Daher war die Umsetzung des Minsker Abkommens zuletzt für Kiew überhaupt nicht akzeptabel mehr. Und so handelt es sich aus der von Selenskyj dargestellten Sicht aktuell vor allem um die Legitimierung des Status quo, der ohnehin bereits seit 2014 existierte.

An einigen Stellen stimmt das allerdings nur bedingt. Denn die mögliche Stationierung regulärer russischer Truppen verändert die Sicherheitslage in der Region enorm. Russland hat seine Armee bisher nur in kritischen Momenten im August 2014 und Februar 2015 verdeckt eingesetzt. Die Separatisten haben nur auf die eigenen Streitkräfte als Machtbasis im Kampf gegen Kiew zurückgreifen können, die allerdings sowohl militärisch als auch finanziell von Russland unterstützt wurden.

Gleichzeitig ist es aus ukrainischer Sicht problematisch, dass es bei der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken viel Interpretationsspielraum gibt, was die Grenzziehung betrifft. Obwohl das russische Außenministerium betont, es handele sich um die faktischen Gebiete, gab es im Laufe des Tages widersprüchliche Stimmen dazu aus Moskau - und auch die entsprechende Formulierung in den sogenannten Freundschaftsverträgen sind nicht eindeutig. Die Separatistenrepubliken haben sich in den Grenzen des gesamten Gebietes von Donezk und Luhansk proklamiert, kontrollieren aber nur ein Drittel des entsprechenden Territoriums.

Beide Punkte erhöhen jedenfalls die Wahrscheinlichkeit einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen und der russischen Armee zumindest im Donbass - zumal die militärische Lage an der Grenze des umstrittenen Gebietes auch am Dienstag angespannt blieb.

In Bezug auf eine mögliche große Invasion Russlands gab sich der ukrainische Präsident Selenskyj sowohl Montagnacht als auch am Dienstag gelassen. Er würde erst im Falle eines groß angelegten Angriffs etwa über die Einführung des Kriegsrechts im ganzen Land nachdenken, erklärte er. Jedoch schließt er nun den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Moskau nicht mehr aus. Viel würde dieser Schritt aber nicht ändern, denn die diplomatischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland sind ohnehin eigentlich nicht mehr existent.

Was in der Ukraine die meisten Sorgen macht, ist die Rede Putins von Montagabend. Denn die Möglichkeit der Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken lag bereits seit einigen Tagen in der Luft. »Putins Rede zeigt, dass er von Imperialismus und Anti-Ukrainismus besessen ist. Deswegen besteht das große Risiko, dass er im Donbass nicht stoppt«, schreibt zum Beispiel der Politologe Wolodymyr Fessenko, der dem Präsidenten nahesteht.

Und während in der Kiewer Innenstadt der Alltag weitergeht, ist es vor allem die Person Putins, die wieder zu einem der wichtigsten Gesprächsthemen auf der Straße und in sozialen Netzwerken wurde. »Dass Russland in den letzten 30 Jahren nichts Schlechtes für die Ukraine gemacht hat, wäre ein cooler Scherz. Doch es ist kein Scherz, und ich frage mich, wie man daran glauben kann«, sagt etwa eine junge Kellnerin in einem italienischen Café in der Kiewer Oberstadt.

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