Epochenbruch nach Drehbuch

Russland erkennt die Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk an. Die Gründe für die Entscheidung sind offensichtlich inszeniert

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 5 Min.

Wladimir Schirinowski lag nur wenige Stunden daneben. »Am 22. Februar um vier Uhr morgens werden sie es merken«, brüllt der Parteichef der kremltreuen Partei LDPR in einem Video, das am Montagmorgen durch das russische Internet geisterte. An besagtem Februartag werde Kiew nämlich den Donbass bombardieren. Die Ukraine wolle Krieg, behauptet Schirinowski in dem Clip vom Ende des vergangenen Jahres. Doch Russland werde zurückschlagen, den Landsleuten im Donbass zu Hilfe eilen und wieder zu alter Größe finden. »Das wird kein friedliches Jahr«, droht Schirinowski. Kritiker sollten »die Fresse halten« und sein Land respektieren.

Die zwei Monate alte Drohung wirkt wie eine Blaupause für die Kette offensichtlich inszenierter Ereignisse, die am späten Montagabend in Russlands Anerkennung der Unabhängigkeit der ostukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk gipfelte.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Seit Ende der vergangenen Woche veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti in dichter Folge Eilmeldungen über angebliche ukrainische Aggressionen wie den Beschuss eines Kindergartens, Schießereien, Bombenanschläge und andere Diversionsakte Kiews. Schließlich verkündeten die Separatistenchefs Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik die Evakuierung der Bevölkerung der Volksrepubliken nach Südrussland. Die am Freitag ausgestrahlten Videos waren jedoch keineswegs eine spontane Reaktion auf einen angeblich kurz bevorstehenden ukrainischen Angriff. Wie russische Investigativjournalisten anhand der Zeitstempel der Clips nachwiesen, wurden diese bereits am vergangenen Mittwoch aufgenommen - dem Tag des von Washington ursprünglich angekündigten russischen Angriffs auf die Ukraine.

Der Eindruck der Inszenierung eines Vorwands für ein russisches Eingreifen verdichtete sich am Montagmorgen, als Ria Novosti die Schlagzahl der Meldungen drastisch erhöhte und nun im Stundentakt vor angeblichen Provokationen Kiews warnte. Auf dem Donezker Flughafen habe es eine »mächtige Explosion« gegeben, fünf ukrainische Saboteure seien beim Versuch, die russische Grenze zu überqueren, in ihren Schützenpanzern »vernichtet« worden, ein ukrainisches Geschoss habe einen Grenzposten auf russischer Seite zerstört, meldete Ria Novosti. Die Angaben waren nicht überprüfbar.

Auch wenn Kiew die Anschuldigungen umgehend zurückwies: Am frühen Nachmittag baten Leonid Pasetschnik und Denis Puschilin im russischen Fernsehen angesichts der angeblichen Gefahr um eine Anerkennung der Gebiete Luhansk und Donezk durch Moskau. Puschilin, der die sogenannte Volksrepublik Donezk führt, forderte zudem einen Vertrag über militärischen Beistand.

Dann folgte der nächste Schritt: Präsident Wladimir Putin rief den nationalen Sicherheitsrat zu einer außerplanmäßigen Sitzung zusammen, um die Bitte der Rebellenführer zu erörtern. Russische Presseagenturen hatten die Sondersitzung des Gremiums, welches das Staatsoberhaupt seit 1992 in wichtigen sicherheitspolitischen Fragen berät, bereits am Morgen angekündigt.

Er habe sich bewusst mit niemandem zuvor beraten, erklärte Präsident Putin zu Beginn der Sitzung. Ihn interessierte die Haltung der Ratsmitglieder zum Stand der Umsetzung des Minsker Abkommens und zur Frage der Anerkennung der Volksrepubliken.

Die Antworten der vor laufenden Kameras einzeln ans Mikro gerufenen Politiker fielen erwartungsgemäß aus. »Im Prinzip braucht die Ukraine diese Gebiete nicht«, erklärte beispielsweise Ex-Präsident Dmitri Medwedjew, welcher im Sicherheitsrat als Vize-Vorsitzender fungiert. »In jedem Fall sind sie ein Druckmittel im Kampf um den Status der Ukraine«. Walentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrates, der zweiten Kammer des russischen Parlaments, beklagte »sieben Jahre Genozid« in der Ukraine, zurückgehaltene Zahlungen und Sozialleistungen sowie eine ukrainische Blockade von Donezk und Luhansk. »Was hat Russland der Ukraine in den letzten 30 Jahren denn Schlechtes angetan?«, fragte die frühere Gouverneurin von St. Petersburg. »Wir werden Aggressor genannt und verkaufen ihnen noch Gas.« Nikolai Patruschew, Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB behauptete, die USA wollten Russland zerstören.

»Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass es keine Aussichten für die Abkommen gibt«, fasste Putin die Sitzung mit Blick auf die Minsker Vereinbarungen zusammen und kündigte eine Entscheidung »in den nächsten Stunden« an.

Doch die medienwirksam inszenierte Fragestunde dürfte die Entscheidung des Staatschefs am Montagabend kaum beeinflusst haben. Allem Anschein nach wurde sie nämlich nicht live ausgestrahlt - sondern bereits fünf Stunden zuvor aufgezeichnet. Darauf verweisen unter anderem Detailaufnahmen der Uhr von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, auffällige Regieschnitte in der Rede von Walentina Matwijenko und der offenbar herausgekürzte Auftritt von Generalstaatsanwalt Igor Krasnow. Dieser hätte eigentlich nach Premierminister Michail Mischustin sprechen sollen. Im Fernsehen wurde Krasnows Rede jedoch nicht gezeigt. Stattdessen ist nur zu sehen, wie dieser das Podium mit dem Mikro verlässt.

Solche Feinheiten hielten den gestarteten Prozess allerdings nicht auf. Gegen 22 Uhr Moskauer Zeit wandte sich Putin im Fernsehen an die Bürger. Russland werde die Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk anerkennen. Dem Schritt ging eine gut einstündige Generalabrechnung mit der Ukraine und dem Westen voraus. Dabei stritt Putin unter anderem die Staatlichkeit der Ukraine ab. Diese sei eine künstliche Nation, die Lenin erfunden habe.

Im unmittelbaren Anschluss wurde gezeigt, wie die Separatistenführer Verträge über Freundschaft und militärischen Beistand unterschrieben. Wenig später ordnete der Kreml eine Entsendung russischer Soldaten in die Ostukraine an. Am Dienstag nahm die Duma die Verträge einstimmig an. Russland steigt damit einseitig aus dem Minsker Abkommen aus, in dem es sich einer Rückkehr von Donezk und Luhansk in den ukrainischen Staatsverbund verpflichtete.

Unklar bleibt, wo die Grenzen der von Moskau anerkannten Gebiete verlaufen. Die prorussischen Rebellen kontrollieren nur einen Teil der Verwaltungsgebiete von Luhansk und Donezk - erheben aber Anspruch auf das gesamte Territorium der Gebiete, das größtenteils unter Kontrolle der ukrainischen Armee steht. Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte sich trotz achtfacher Nachfrage nicht genau festlegen und sprach von Grenzen, »innerhalb derer sie existieren«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.