Keine Rücksicht auf die Schwachen

Sozialdarwinistisches Denken ist auch heute noch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erkennbar, meint Natascha Strobl

  • Natascha Strobl
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach über zwei Jahren Pandemie und fast ebenso langer Proteste der Leugner*innen und Verharmloser*innen blicken noch immer viele rätselnd auf die skurrile Ansammlung, die sich da Woche für Woche in verschiedensten deutschen, österreichischen und schweizerischen Städten versammelt. Was um alles in der Welt haben die Eso-Trommlerinnen, die kümmerlichen Reste einer Friedensbewegung, die organisierte extreme Rechte und scheinbar ganz normale Leute und ihre Cheerleader aus der marktradikalen Ecke gemeinsam?

Darauf gibt es viele Antworten. Zweckgemeinschaften, Ignoranz und kalkulierte sowie strategische Allianzbildungen sind sicherlich anzutreffen. Es gibt aber auch eine Vorstellung der Wirklichkeit, die von allen geteilt wird: Sozialdarwinismus.

Natascha Strobl
Natascha Strobl ist Politikwissenschaftlerin und Autorin aus Wien. Auf Twitter schreibt sie Ad Hoc-Analysen zu rechtsextremer Sprache und faschistischen Ideologien, für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Rechte Umtriebe«. Darin widmet sie sich der Neuen und Alten Rechten und allem, was sich rechts der sogenannten Mitte rumtreibt. Alle Texte auf dasnd.de/umtriebe.

Sozialdarwinismus hat eine lange Tradition und eine durchaus vielfältige Geschichte. Der ursprüngliche Gedanke geht sogar über Darwin hinaus. Thomas Robert Malthus war Ökonom und Pfarrer und beobachtete Ende des 18. Jahrhunderts, bei einem Anwachsen der (armen) Bevölkerung Londons eine nicht äquivalente Steigerung der Lebensmittel. Das führte ihn zu der Ableitung, dass auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse von armen Menschen eine Steigerung der Geburtenrate folgte. Demzufolge sei eine staatliche Armenpolitik nicht nur sinnlos, sondern geradezu schädlich. Vielmehr würde sich die Bevölkerungszahl in Form von natürlichen Katastrophen einpendeln. Natürliche Katastrophen waren laut Malthus etwa Hunger und Seuchen. Soweit, so menschenverachtend. Es ist kein Wunder, dass Malthus mit seiner Vermengung von moralischen-reaktionären Ansichten und kalter Ökonomie ein Vertreter und Begründer des Wirtschaftsliberalismus ist.

Es zeigen sich also schon ganz zu Beginn der Entwicklung dessen, was Sozialdarwinismus ist, dass es hier eine sozioökonomische und eine gesellschaftspolitische Ebene gibt, die eng miteinander verwoben ist. Es war Darwin, der durch Malthus zu seinen Beobachtungen in der Natur inspiriert wurde und daraus seine bahnbrechenden Erkenntnisse zog. Ein Treppenwitz der Wissenschaftsgeschichte. Von Darwin wiederum wurden auch viele Sozialwissenschaftler*innen und Politiker*innen inspiriert, diese Erkenntnisse auf soziale Prozesse umzulegen. Nicht alles davon endete in einer zynischen Abwertung menschlichen Lebens. Im Gegenteil: »Survival of the Fittest« kann und wurde auch als Aufruf zur Kooperation interpretiert. Menschlicher Fortschritt entsteht, wenn man zusammen hält und nicht jeder gegen jede kämpft.

Der Malthus’sche Strang existierte aber weiter und fand seinen Eingang in die Wirtschaftswissenschaften sowie in Politik und Gesellschaftspolitik. Die aufkommende völkische Bewegung nahm dankbar und fleißig Bezug darauf. Der völkische Sozialdarwinismus erlaubte die Verquickung verschiedenster Feindbilder. Der Feind wurde so nicht nur zum Feind, sondern auch zur Last für den Rest der Bevölkerung: Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti aber auch sogenannte Asoziale schwächen das Volksganze, den »Volkskörper«, (insbesondere durch ihre vermeintlich schwächliche Physis und mangelnde Gesundheit) und es kann der Mehrheit nicht aufgebürdet werden, diese Last zu tragen. Also werden sie nicht nur ihren teilweise erbärmlichen Umständen (wie bei Malthus) überlassen, so dass die »Natur« in Form von Hunger und Krankheit walten kann, sondern Umstände geschaffen in denen die, die eine Last sind, umkommen. Der Schritt zur angewandten und auf grausamste Art und Weise durchgeführten aktiven Eugenik war dann nur folgerichtig.

Die Geschichte von Faschismus und Nationalsozialismus zeigt einen grausamen und extremen Höhepunkt sozialdarwinistischen Denkens. Sie darauf zu reduzieren wäre aber falsch. Parallel (und nicht davon abgeleitet) existierten viele weitere sozialdarwinistische Stränge. Etwa in den aufkommenden esoterischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese sind im Grunde eine krude Mischung aus »Geheimwissen«, Ersatzreligion und Selbstoptimierungsideologie. Ein einträgliches Geschäftsmodell außerdem. Durch verschiedene Rituale und Wässerchen geht es darum, den eigenen Körper und die eigene Seele soweit zu optimieren, dass man am Punkt der Vollkommenheit angelangt, was selbstverständlich nie geschieht. Umgekehrt ist dieses elitäre Denken begleitet von Ideen der Abwertung und der Vorstellung, dass Krankheit durch mangelnden Willen zur Selbstoptimierung hervorgerufen wurde und man dementsprechend selbst schuld ist.

Es gibt aber auch weiterhin eine Malthus’sche Tradition in der liberalen Wirtschaftsökonomie. Obsession mit Bevölkerungswachstum bei armen Menschen oder Ländern (beides selbstverständlich unerwünscht) ist ein erster Indikator. Aber auch Selbstoptimierungsdrang und die Idee, dass am Ende die Besten überbleiben und die Schlechten es auch verdient haben, über kein Auskommen zu verfügen, gehören dazu.

Sozialdarwinismus hat viele Verästelungen und (Irr)wege. In Krisenzeiten findet man aber sehr gut wieder zusammen. Eine solidarische Gesellschaft ist notwendigerweise eine Gesellschaft ohne Sozialdarwinismus.

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