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Der Stoff, aus dem Albträume sind
In ihrem »Archiv der Träume« bricht Carmen Maria Machado mit einem Tabu und erzählt von Gewalt in lesbischen Beziehungen - auf formell äußerst interessante Weise
Das Traumhaus, das in Carmen Maria Machados Fall schnell zum Albtraumhaus wird, ist Metapher und Nicht-Metapher zugleich. Es ist ein Haus, das die US-amerikanische Autorin mit ihrer Freundin am Stadtrand von Bloomington, Indiana, bewohnt, ein ganz manifestes Haus mit Wänden, Dach, einem Seil an einem Baum, an dem früher eine Schaukel baumelte. Doch schon wirkliche Häuser sind keine leeren, bedeutungsfreien Räume. »Ein Haus ist nie unpolitisch. Es wird von Menschen mit Macht, Bedürfnissen und Ängsten entworfen, erbaut, bewohnt und überwacht«, schreibt Machado in »Das Archiv der Träume«.
Zu Beginn ihres Buches, das der Tropen-Verlag (der 2017 bereits ihren Kurzgeschichtenband »Ihr Körper und andere Teilhaber« veröffentlichte) als Roman kategorisiert, zitiert sie zudem die Künstlerin Louise Bourgeois mit dem Satz: »Erinnerung an sich ist auch eine Form der Architektur.« Denn auch das ist Machados Traumhaus: Die Erinnerung an eine Beziehung voller physischer und vor allem psychischer Gewalt.
Ihr Roman, der auf Englisch »In The Dream House« heißt, besteht aus vielen kurzen Kapiteln, Räumen gleich, deren Überschriften dann »Das Traumhaus als«...»Bildungsroman«, »Zweite Chance«, »Hotelzimmer in Iowa City«, »Lesbischer Groschenroman« oder »Hypochondrie« lauten. Größtenteils chronologisch arbeitet sie die toxische Beziehung zu ihrer Partnerin auf. Diese lernt sie als schlanken, blonden Traum kennen, während Machado, wie sie mehrfach thematisiert, mit Übergewicht zu kämpfen hat und deswegen kaum glauben kann, dass sich diese Frau für sie interessiert. Erste Red Flags tauchen bereits sehr früh auf, aber diese werden von ihr nicht erkannt oder ignoriert. Wann genau die Beziehung ins Toxische kippt, ist - so schleichend, wie es geschieht - auch gar nicht leicht auszumachen, nicht für die Erzählerin, nicht für uns Leser*innen.
Machado bleibt in diesem memoirartigen Roman nicht verhaftet in ihren persönlichen Erfahrungen mit der Frau im Traumhaus, sondern blickt immer wieder über den Tellerrand hinaus in die Geschichte, Kultur und Popkultur. Sie erzählt etwa von den wenigen öffentlich bekannten Fällen häuslicher Gewalt in lesbischen Beziehungen, von der Etymologie des Wortes »Gaslighting«, das die gezielte gewalttätige Manipulation einer Person beschreibt und ursprünglich aus einem Film aus dem Jahr 1944 stammt, oder von der Darstellung queerer Figuren bei Disney. Als weitere Metaebene gibt es außerdem zahlreiche Fußnoten, die keine richtigen Informationen, sondern Hinweise auf Motive in Märchen enthalten, die man sich selbst erschließen muss.
»Das Archiv der Träume« ist ganz ohne Zweifel stark autobiografisch, mehr Memoir denn Roman, die Leser*innen sind auch ganz nah bei den Gedanken und Gefühlen der Erzählerin. Die Autorin baut aber durch Fiktionalitätsmarker eine gewisse Distanz zu ihrer Protagonistin beziehungsweise ihrem Alter Ego auf. So werden die traumatischen Erlebnisse mit der Frau im Traumhaus von einer »Du-Erzählerin«, sprich in der zweiten Person geschildert. Das wird nur aufgebrochen, wenn Carmen Maria Machado aus der Sicht ihres heutigen Autorinnen-Ichs berichtet und dann in die erste Person wechselt.
Was Machado uns mit ihren Exkursen und ihrer »Du-Erzählerin« sagen will, ist: Ihre Erfahrungen sind nicht singulär. Häusliche Gewalt, psychischen, emotionalen und physischen Missbrauch gibt es häufig, und das wird auch häufiger von Frauen ausgeübt, als man vielleicht glauben mag.
Über diese Themen zu schreiben, ist allerdings stark mit Scham verbunden. Scham, wenn die gemeinsamen Freund*innen durch die Risse an der Oberfläche blicken und erkennen, in was für einer Beziehung die Erzählerin feststeckt. Scham, dass sie überhaupt zugelassen hat, sich so stark und über einen so langen Zeitraum hinweg manipulieren und missbrauchen zu lassen. Scham, dass sie trotz aller Angst vor ihrer Freundin immer noch an die Liebe, die Hoffnung glaubte und es ihr nicht gelang, sie zu verlassen. Noch dazu hat sie Angst davor, andere queere Personen zu verraten: »Das ist eben die Angst der Minderheit, wenn du nicht aufpasst, wird jemand dich - oder Personen, die zur gleichen Gruppe gehören wie du - irgendwann bei einer menschlichen Handlung beobachten und es gegen dich verwenden. Die Ironie dabei ist natürlich, dass queere Menschen gute PR brauchen (…) Aber versuchen wir nicht eigentlich die ganze Zeit, euch zu zeigen, dass wir genauso sind wie ihr?«
»Das Archiv der Träume« (gekonnt aus dem Englischen übertragen von Anna-Nina Kroll) ist ein Buch, das sich verschiedener narrativer Traditionen bedient und sich mit seiner experimentellen Struktur jeglicher Genrezuweisung verwehrt. Dieser ehrliche, innovative und mitleidlose Erfahrungsbericht voller Dunkelheit und Schmerz, der gleichsam auch von Grauzonen und vom Überleben erzählt, wurde für mehrere Preise nominiert und ausgezeichnet, unter anderem 2020 mit dem Lambda Literary Award, der auf LGBTQ-Literatur spezialisiert ist. Mit ihrem »Traumhaus« schreibt sich Carmen Maria Machado in die erste Riege queerer Autor*innen.
Carmen Maria Machado: Das Archiv der Träume. A. d. Engl. v. Anna-Nina Kroll. Tropen-Verlag, 336 S., geb., 22 €.
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