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Einatmen und Ausatmen
Immer mehr Menschen glauben an Selbstoptimierungsstrategien, um den auszehrenden Arbeitsbedingungen standzuhalten
»Eine gute Möglichkeit, seinem Körper eine Verschnaufpause zu gönnen, sind Kurse in Achtsamkeit, Yoga, Qigong oder Meditation«, schrieb die Apothekenzeitschrift »My Life« zum Jahresausklang. Die Krankenkassen zahlen häufig einen Zuschuss oder erstatten sogar die gesamten Kosten - das ist wesentlich günstiger als eine richtige Psychotherapie, und an ausgebildeten Therapeutinnen mangelt es ohnehin.
Zu den Kassenleistungen gehören seit einiger Zeit auch Onlineprogramme wie die Angebote von Hello Better, einem in Hamburg und Berlin ansässigen Unternehmen, das verschiedene Online-Gesundheitskurse vermarktet. Der Kurs »Hello Better Depression« verspricht »Verhaltensaktivierung« und die »Reduktion begleitender Angstsymptome«, und das in nur sechs »wöchentlich zu absolvierenden Einheiten mit einer Bearbeitungszeit von 45 bis 60 Minuten«. Das klingt nach noch mehr Arbeit, scheint jedoch sehr erfolgreich zu sein.
Ausgezeichnet wurde Hello Better unter anderem von der Europäischen Kommission und dem Weltwirtschaftsforum. Es tut offenbar, was es soll: den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit temporär zu befrieden und die zerschundenen Subjekte mit möglichst geringen Kosten in den Arbeitsprozess zu reintegrieren.
Zwei besonders verbreitete Rezepte zur Selbstoptimierung sind Achtsamkeit und Resilienz. Achtsamkeit verlangt das absolute Sein im Moment und fordert, vorhandene Gefühle und Gedanken zwar wahrzunehmen und anzuerkennen, sie jedoch nicht zu bewerten.
Achtsamkeit (Mindfulness) hat sich in Schulen, beim Militär und im Arbeitsleben als Methode zur Leistungssteigerung etabliert, wie der US-amerikanische Professor für Management, Ronald E. Purser, in seinem Buch »Wie Achtsamkeit die neue Spiritualität des Kapitalismus wurde« konstatiert. Sie sei eine »egozentrische Religion«, die Stress entpolitisiere und privatisiere. »Die unvorhersehbaren Zyklen und Krisen des Kapitalismus sowie die groben Ungleichgewichte in Bezug auf Reichtum und Macht erzeugen Stress«, führt Purser aus. Geschätzte 850 Milliarden Dollar betriebswirtschaftliche Verluste seien in den USA auf Stress und Lustlosigkeit am Arbeitsplatz zurückzuführen. Achtsamkeit soll dem entgegenwirken.
Die Mindfulness-Industrie setzt jährlich rund vier Milliarden Dollar mit dem Mantra aus »Full Catastrophe Living« (dt. Titel: Gesund durch Meditation) von Jon Kabat-Zinn um, dem Erfinder der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), die auch in Deutschland breiten Anklang findet: »Mit den Dingen zurechtkommen, wie sie sind.«
Resilienz ist das übergeordnete Prinzip. Denn »Achtsamkeit ist eine Möglichkeit, die Resilienz zu stärken und junge Menschen hervorzubringen, die mit ihren Emotionen umgehen und mit dem Stress einer marktorientierten Welt fertigwerden können«, schreibt Purser. Stefanie Graefe und Karina Becker kennzeichnen in der Einleitung zu ihrem Sammelband »Mit Resilienz durch die Krise?« als Dauermodus des Spätkapitalismus und damit auch des Arbeitsalltags. Störungen des Betriebsablaufs würden dabei immer als von außen kommend betrachtet und nicht als systeminhärent wahrgenommen. Daher sei auch ein Systemwandel undenkbar, denn die Probleme würden in die Individuen verlagert.
Becker betont in ihrem Beitrag zur Resilienz im Arbeits- und Gesundheitsschutz, dass Resilienz eigentlich ein Persönlichkeitsmerkmal sei und kaum erlernt oder trainiert werden könne. Manche Menschen seien eben sehr belastbar, andere nicht. Unabhängig davon münzen Kurse zur Verbesserung der Resilienz Krise, Stress und permanente Belastungen positiv um, denn sie böten die Chance auf Wachstum, Entwicklung und Veränderung. Die Ausnahme wird zum Normalzustand, das Zerstörerische bedeutet Fortschritt.
Was die Notwendigkeiten des postfordistischen Arbeitsalltags, die sich als Angebote zur Selbstfürsorge tarnen, gemeinsam haben: Sie werben damit, »speziell für dich« und »individuell auf deine Bedürfnisse zugeschnitten« zu sein. Dass ein Achtsamkeitsratgeber, eine Tinnitus-App oder ein standardisierter Antistress-Onlinekurs nicht individuell sein können, ist den Konsumentinnen vermutlich sogar bewusst. Weniger bewusst dürfte den meisten Nutzern sein, was mit deren Hilfe wirklich verschleiert wird und weshalb sie bei vielen Unternehmen inzwischen zu beliebten Managementvehikeln zählen.
Es geht allein darum, Symptome zu bekämpfen und sich mit dem geringstmöglichen Schaden bestmöglich an die bestehenden Zustände anzupassen. Die Geist und Körper zermarternden Strukturen bleiben unangetastet. Ändere die Einstellung zu deinem Tinnitus. Ändere die Einstellung zu deinem sexistischen Vorgesetzten, zum drohenden Arbeitsplatzverlust und zur Altersarmut. Es gilt stets die innere Einstellung zu ändern, die Probleme bei sich selbst zu suchen, dabei »destruktive« Gefühle wie Wut, Traurigkeit, Frustration und Aggression zu kontrollieren und »die Verwüstungen des Kapitalismus achtsam zu ertragen«, wie Purser schreibt. Kollektives, solidarisches, aufbegehrendes Handeln wird so verunmöglicht.
Das ist der neoliberale Kitt, der die geschundenen Individuen an »Eigenverantwortung« glauben lässt, er raubt ihnen die Fähigkeit zur Kritik, indem er ihnen vorgaukelt, sie handelten selbstbestimmt und frei von äußeren Zwängen. Er macht die unaushaltbaren Zustände noch eine Weile aushaltbar. Wer nur resilient und achtsam genug ist, gehört so lange zu den Gewinnern, bis auch ihm Geld, Gesundheit oder Verstand oder alles zusammen abhandenkommen.
In der Coronapandemie haben Probleme mit dem Muskel-Skelett-System, insbesondere Rückenschmerzen, zu acht Prozent mehr Krankschreibungen geführt und sind weiterhin ursächlich für die meisten Fehltage. In den vergangenen Jahren haben die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen signifikant zugenommen und rangieren seit einiger Zeit knapp hinter den Rückenleiden auf Platz zwei in der Krankenstatistik.
Inzwischen mehren sich zudem die Berichte von Ärztinnen und Pflegekräften über ihren Alltag im Ausnahmenormalzustand. Die geschilderten Erlebnisse auf der Intensivstation, inklusive Coronaleugnern am Beatmungsgerät und Patienten, die Pferdeentwurmungsmittel gegen Corona geschluckt haben, vor allem jedoch die psychischen und physischen Belastungen sind allein schon beim Lesen schwer zu ertragen. Anfang Dezember 2021 war in der »Passauer Neuen Presse« der Bericht einer jungen Pflegerin zu lesen. »Durch die schwere Schutzausrüstung tragen einige Kolleginnen nach dem Dienst die Abdrücke des harten Plastiks auf der Kopfhaut, andere übergeben sich wegen der Kopfschmerzen, die aufgrund der schlechten Belüftung und des engen Sitzes des Visiers entstehen. Wieder andere legen sich noch im Umkleideraum in ihrer Unterwäsche auf den Boden, da der Dienst ihnen die letzte Energie geraubt hat und sie einen Kreislaufzusammenbruch verhindern wollen.«
Die Empfehlung, in Stresssituationen fünf Minuten zu meditieren oder der kluge Ratschlag, manchmal helfe es »schon, einfach eine Tasse Tee oder ein Glas Wein in aller Ruhe zu genießen«, dürften den schon lange vor der Pandemie an der Belastungsgrenze arbeitenden Care-Arbeiterinnen nicht mal mehr ein zynisches Lächeln abringen.
Und das ist auch gar nicht nötig, denn »wer Kriseneinsätze übersteht, ohne Schaden zu nehmen, weil er/sie über die nötige Resilienz verfügt, für die/den sind alle anderen auf Sicherheit und Gesundheit zielenden Maßnahmen unnötig,« fasst Karina Becker die groteske Lage all derer zusammen, die den Unwillen und das Unvermögen von Politik und Gesellschaft, wirtschaftliche Interessen hintenanzustellen, mit ihrer Gesundheit und auch mit ihrem Leben bezahlen.
Stand Oktober 2021 sind laut WHO weltweit etwa 180 000 Pflegekräfte an Corona gestorben. Viele der Überlebenden kämpfen mit den Langzeitfolgen und können vielleicht nie wieder ein normales Leben führen, geschweige denn sich weiter in der Gesundheitswirtschaft verheizen lassen.
Stefanie Graefe, Karina Becker (Hg.): Mit Resilienz durch die Krise? Anmerkungen zu einem gefragten Konzept. Oekom, 146 S., br., 22 €;
Ronald E. Purser: Wie Achtsamkeit die neue Spiritualität des Kapitalismus wurde. Mabuse-Verlag, 235 S., br., 29 €.
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