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Die Lizenz zum Angriff

Was gibt Russlands Präsident Putin die Macht, skrupellos einen souveränen Nachbarstaat zu überfallen und zu knechten?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.

Was treibt Putin? Er überfällt ein slawisches Brudervolk, demütigt es, mordet, er verletzt Völkerrecht, droht anderen Nationen, die sich ihm in den Weg stellen, mit Atomschlägen. Trotz gigantischer Truppenkonzentrationen an den Grenzen zur Ukraine hat er monatelang versichert, Verhandlungslösungen für mehr Sicherheit in Europa suchen zu wollen. Doch während Menschen in aller Welt darauf hofften, dass die geplante Begegnung zwischen den Außenministern Antony Blinken (USA) und Sergej Lawrow (Russland) eine solide Vorbereitung für ein erneutes Treffen zwischen den Staatschefs Joe Biden und Wladimir Putin sein könnte, begann Moskau seine »besondere Militäroperation«. Eiskalt, hart, mit allem, was die russische Kriegsmaschine an Mordwerkzeugen hat.

Dass Putins Auslandsgeheimdienst SWR und die Militärspione der GRU bei der Zielaufklärung leichtes Spiel hatten, ist zu vermuten. Viele Details werden erst noch ans Licht kommen. Es gibt eine Flut von Wort- und Bildberichten über Artillerie- und Raketenangriffe, zu sehen sind die von Putin angekündigten Attacken gegen Kommandopunkte der ukrainischen Streitkräfte, auf Flugplätze und Hafenanlagen. Schon am Donnerstag jedoch wurden die chirurgisch-präzisen Schläge, mit denen vor allem das militärische Rückgrat der Verteidiger gebrochen werden sollte, abgelöst von extrem blutigen Scharmützeln.

Latenten Krieg mit Zehntausenden Opfern gibt es in der Ostukraine seit 2014. Wieso glaubt Putin, seine großrussischen Träume, von denen keiner weiß, wie weit sie gehen, jetzt im Frühjahr 2022 durchsetzen zu können?

Unter anderem, weil die russische Armee kaum noch Ähnlichkeit mit den aufgelösten Formationen hat, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer aus verschiedenen ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages zurückziehen mussten. Auch die psychologische Wirkung der in Afghanistan eingestandenen Niederlage ist überwunden. Verflogen ist der Ekel wider die rüden Einsätze in den beiden Tschetschenien-Kriegen.

2008 begann Russland mit einer umfassenden Militärreform. Und die geht immer noch weiter. Der Umfang der Streitkräfte schrumpfte von 1,13 Millionen auf rund eine Million Soldatinnen und Soldaten. Die Reservisten reduzierten sich von 20 Millionen auf lediglich 700 000. Klasse vor Masse. Man schaffte die schwerfälligen, für einen langen Frontverlauf vorgesehenen Divisionen ab. An ihre Stelle traten kleinere, schnell verlegbare Brigaden. Die Streitkräfte einschließlich Führung sind organisatorisch in der Lage, sehr rasch den Wandel von einer Mobilisierungs- zur Einsatzarmee zu vollziehen.

Auch wurde die Truppe stets »in Übung« gehalten. Auf Basis neuer Militärdoktrin gab es mindestens zweimal pro Jahr große Übungen. Entdeckte Schwachstellen merzte man aus. Seit Anfang der 1990er Jahre sind russische Soldaten in Moldawien präsent. Man zeigte Macht in Tadschikistan. Einer der gewalttätigsten und langwierigsten Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, der Kampf von Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, rief russische Truppen mehrfach auf den Plan. Bis 2003 sammelten russische Truppen als Teil der Sfor in Bosnien und Herzegowina Erfahrungen, zwischen 1999 und 2003 standen sie in Kosovo. Als Abchasiens und Südossetiens Unabhängigkeitswunsch von Georgien gestoppt wurde, traten russische Soldaten auf den Plan. 2008 kämpfte die 58. Russische Armee im sogenannten »Fünf-Tage-Krieg« die georgischen Truppen nieder. Jüngst gelang der Kasachstan-Einsatz perfekt.

Neben organisatorischen und personellen Veränderungen besteht ein Kernelement der Militärreform darin, Ausrüstung und Bewaffnung zu verbessern. 2008 genügten gerade einmal zehn Prozent der Waffensysteme modernen Standards. Neue Panzerfahrzeuge und Artilleriesysteme, moderne Über- und Unterwasserschiffe, Kampfjets und Drohnen wurden in die Truppe eingeführt. Inzwischen bestimmen Iskander-, Kalibr-, Zirkon- oder Kh-101-Flugkörper zum Teil mit Hyperschallgeschwindigkeit das Niveau der internationalen Raketentechnik. Viele westliche Experten sprachen von Potemkin’schen Dörfern, als Russlands Präsident in jüngster Zeit öffentlich die Großtaten seiner Rüstungsindustrie zelebrierte. Übungsvideos, aber vor allem die jahrelangen Waffentests aller Art in den syrischen Kriegsgebieten zeigten, wie sehr sich die »Ungläubigen« irrten. Moskaus Heerführer erprobten nicht nur Waffen und Gerät im »scharfen Schuss«. Sie studierten die westliche Technik und Taktik, vervollkommneten ihre eigenen Führungsfähigkeiten. Das Resultat demonstrieren die russischen Streitkräfte in der Ukraine mit ihrer totalen Überlegenheit - zu Lande, in der Luft, in kosmischen Umlaufbahnen wie auf dem Meer und im sogenannten Cyberraum.

Die Gelegenheit zu solch einer Entwicklung basiert auch auf der Arroganz westlicher Politiker. Vor allem die USA kündigten einen Rüstungs- und Verifikationsvertrag nach dem anderen. So war freie Bahn für Russlands Militärindustrie geschaffen, die über gewaltige finanzielle Mittel verfügt, weil sie in Großserien produziertes Gerät gegen harte Dollars weltweit exportiert.

Am vergangenen Wochenende hat Putin im Beisein seines »Kumpels« Alexander Lukaschenko, dem alliierten Machthaber von Belarus, eine Übung der russischen strategischen Abschreckungskräfte befehligt. Die sind atomar bestückt und haben - auf Putins Geheiß - die Lizenz, Leben an jedem beliebigen Punkt der Erde auszulöschen. Mit der zu erwartenden Vergeltung durch westliche Atommächte gäbe es auf der Erde kein Klima mehr, das zu retten wäre. Die Vorführung dieser teuflischen Macht erfolgte nicht zufällig vor dem Angriff auf die Ukraine. Putin setzte damit etwaigen Nato-Überlegungen über einen größeren militärischen Beistand für die Ukraine einen rationalen Endpunkt.

Es gibt weitere Gründe, weshalb Russland - ähnlich wie der Lehrmeister USA beispielsweise im Irak - so ungeniert Völkerrecht verletzen, Regierungen auswechseln und global neue Einflusssphären aufbauen kann. So wird diese rüde Methode zur Durchsetzung von Interessen durch keine multinationale Organisation gehemmt. Stoppzeichen der Uno überwindet Moskau mühelos per Veto im Sicherheitsrat. Die OSZE? Eine zahnlose Behörde, die Waffenstillstandsverletzungen zählt. Wie sich nach dem Abschuss von Flug MH17 im Jahr 2014 über der Ostukraine zeigte, schert sich Moskau auch nicht um internationale Rechtspflege.

Unter Putin wurde auch die innere Opposition reduziert und die Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen mit Partnern im Westen gekappt. Moskaus »Cäsar« verfügt über ein Informationsmonopol, das dank der einst gemeinsamen russischen Sprache auch in andere Staaten der Ex-UdSSR wirkt.

In der Ukraine - ohne die von Russland bereits okkupierte Halbinsel Krim - leben rund 42 Millionen Menschen. Über 17 Prozent gelten als Russen. Beim Zerfall der Sowjetunion hat sie, wie auch Hunderttausende Menschen in anderen ehemaligen Regionen der UdSSR, niemand gefragt, ob sie Bürger der Ukraine sein wollen, die in die Nato und die EU strebt. Jene, die sich dem widersetzen, sind - siehe Ostukraine - Putins »Leute«. Es wird demnächst im Rest des Landes nicht an Claqueuren und Kollaborateuren mangeln.

Die Geschichte Russlands spielt eine große Rolle bei der ideologischen Aufrüstung der Bevölkerung. In seinen jüngsten Reden wider die Ukraine und den Westen hat sich Putin reichlich bedient im Setzkasten historischer Parolen. Das Problem: Viele Darstellungen entsprechen der Wahrheit, andere sind an den Haaren herbeigezogen. Propagandistisch geschickt nutzt die Regierung in Moskau vor allem Erinnerungen an den schrecklichen faschistischen Überfall auf die Sowjetunion 1941. Putin inszeniert sich als Bewahrer des großen Sieges über die Okkupanten. Auch jetzt, da er das »faschistische« Regime in Kiew bekämpft, das angeblich auf den Schultern des ukrainischen Nationalisten und Nazikollaborateurs Stepan Bandera steht. Es stimmt, es gibt rechtsextremistische Formationen in den Reihen der ukrainischen Verteidiger. Die Regierung hat das Freiwilligen-Regiment »Asow« und andere Rechtsextreme, die in deutschen Medien als Ausbilder ukrainischer Hausfrauen und Rentner dargestellt werden, in die dem Innenministerium unterstehende Nationalgarde eingegliedert. Doch das rechtfertigt keineswegs die generelle Beurteilung der Ukraine als faschistisch.

Lügen sind stets Treibstoff für zwischenstaatliche Gewalt. Und sie sind Teil der hybriden Kriegsführung. Die Regierung in Moskau versteht sich auf dieses »Spiel« vortrefflich. Fragt sich noch, was Putin hoffen lässt, dass seine Hightech-Wirtschaft und die russische Oberschicht die nun vom Westen verordneten scharfen Sanktionen überstehen? Der Despot setzt vermutlich auf Pekings Hilfe. Und auf ein ungeschriebenes Abkommen, das er mit wichtigen Oligarchen schloss: Er stört ihre finanziellen Räubereien nicht, wenn sie sich regimetreu verhalten und im Ausland Geld waschen - für »Mütterchen Russland«.

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