Die Bewegung des 21. Jahrhunderts

Starke globale Migrationsbewegungen prägen unsere Gegenwart - auch als politische Kraft. Aktivisten der Refugee-Bewegung in Deutschland beziehen sich heute auf die revolutionären Ideen, wie sie der 68er-Theoretiker Herbert Marcuse damals entwarf

  • Lisa Doppler
  • Lesedauer: 13 Min.
Ein Refugee-Aktivist demonstriert 2014 gegen die Teilräumung einer besetzten Schule in Berlin-Kreuzberg
Ein Refugee-Aktivist demonstriert 2014 gegen die Teilräumung einer besetzten Schule in Berlin-Kreuzberg

Im Jahr 2015 besuchte die US-amerikanische Bürgerrechtlerin und Philosophin Angela Davis die Refugee-Bewegung in Berlin und zog am Ende das Fazit, dies sei »die Bewegung des 21. Jahrhunderts«. Angesichts dieses Urteils stellen sich verschiedene Fragen: Was macht diese Bewegung denn eigentlich aus? Was zeigt sie in der Gesellschaft auf? Warum begegnet ihr so starke Repression und was bedeutet Solidarität? Und schließlich, für mich als linke Wissenschaftlerin von besonderer Bedeutung: Wie ist das Verhältnis zwischen kämpfenden Geflüchteten und deutschen Aktivist*innen - und wie stehen eigentlich diejenigen zu den Geflüchtetenprotesten, die diese zum Forschungsgegenstand machen?

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Dass sich gerade das letztgenannte Verhältnis nicht immer einfach gestaltet, verdeutlicht eine Aussage meines Interviewpartners Turgay Ulu. Er habe für manche Akademiker*innen von der Humboldt-Universität in Berlin wenig Respekt, da die zwar über die Refugee-Bewegung schreiben würden, aber den Schlamm des Oranienplatzes - dem Ort in Berlin-Kreuzberg, den geflüchtete Aktivist*innen von 2012 bis 2014 besetzten - nie berührt hätten. Kritische, aktivistische Forschung hat den Anspruch, mit den und für die Widerständigen zu forschen, doch das gelingt nicht immer. Wie kann man sicherstellen, dass dieses Verhältnis weniger hierarchisch ist? Hier ist zunächst anzuerkennen, dass es auch unter den Geflüchteten, die ab 2012 eine sehr sichtbare Bewegung auf die Straße brachten, Intellektuelle gibt, die als solche ernst genommen werden wollen. Sie wollen nicht immer nur erzählen, was die nächste Aktion sein wird und auch nicht nur als vermeintliche Sprecher*innen gesehen werden. Sondern, worüber sprechen praktische Theoretiker*innen gerne? Über Theorie der Praxis.

Dieses analytische Interesse ruft neben Angela Davis einen zweiten Theoretiker auf den Plan: den Sozialphilosophen Herbert Marcuse (1898-1979), der ebenfalls in engem Kontakt mit den linken Bewegungen seiner Zeit stand. Davis - damit schließt sich ein Kreis - hatte in den 1960er Jahren bei Marcuse in Kalifornien studiert und auf seine Vermittlung eine Zeit lang in Frankfurt gelebt, geforscht und Politik gemacht. Aufgrund der stärker werdenden Bürgerrechtsbewegung in den USA kehrte sie jedoch 1967 dorthin zurück, um sich als Aktivistin und Theoretikerin zu beteiligen. Nun belehrte Davis ihren ehemaliger Lehrer Marcuse, wie er 1970 in einem offenen Brief für ihre Freilassung aus der Haft schrieb, in der sie sich seit dem selben Jahr befand: »Freiheit ist nicht nur das Ziel der Befreiung, sie beginnt mit der Befreiung; sie muss ›praktiziert‹ werden. Das habe ich, wie ich gestehe, von Dir gelernt. Seltsam? Ich glaube nicht.«

Theorie der Praxis

Ist ein so enges Verhältnis von Theorie und Praxis, wie es die Politik der 70er Jahre teils charakterisiert hat, denn auch heute noch möglich? Das habe ich im Rahmen der Forschung für meine Dissertation mit intellektuellen Aktivist*innen diskutiert, die in der Refugee-Bewegung in Deutschland und Österreich eine organisierende und öffentlich sichtbare Rolle einnahmen. Unsere Gespräche hatten einen doppelten Bezugspunkt: Zum einen die politische Praxis der Bewegung in den 2010er Jahren, zum anderen die Protesttheorie Herbert Marcuses aus den 1960er und 1970er Jahren. Dies erwies sich als ein fruchtbares Aufeinandertreffen. Einerseits konnten manche geflüchtete Aktivist*innen die Probleme in Marcuses Texten wiederfinden, welche die Bewegung beschäftigen, der sie selbst angehören. Andererseits ließ sich anhand ihrer Kommentare die gegenwärtige Relevanz dieser Kritischen Theorie, die bereits Jahrzehnte alt ist, ausloten.

Um den Hintergrund dieser Gespräche besser verstehen zu können, lohnt es sich, einen kurzen Blick zurückzuwerfen. Vor rund zehn Jahren gewann die Organisierung Geflüchteter in Deutschland erstmals eine solche Breite, Sichtbarkeit und Relevanz, dass von einer eigenständigen Refugee-Bewegung gesprochen werden konnte. Dabei darf allerdings keinesfalls übersehen werden, dass diese auf jahrzehntelangen Kämpfen von Geflüchteten aufbaut. Hier sind als langjährig bestehende Organisationen vor allem »The Voice Refugee Forum« (seit 1994) und die Gruppe geflüchteter Frauen »Women in Exile« (seit 2002) zu nennen. Ebenso ging die Bewegung aus gewachsenen Strukturen antirassistischer Unterstützungsnetzwerke hervor, die Bustouren und Grenzcamps als verbreiteten Aktionsformen hatten - zentral waren hier etwa die Kampagne »Kein Mensch ist illegal« oder die »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant*innen«. Neben vielen linksautonomen Gruppen stellten nicht zuletzt die sogenannten Flüchtlingsräte eine wichtige Solidarstruktur dar.

Diese Akteure sowie unzählige hier nicht genannte kämpften viele Jahre lang gegen Lager, Externalisierung der Grenzen, gegen Gutscheinsysteme, Abschiebungen und viele andere Formen der deutschen Asyl- und Migrationspolitik. Widerstand gab es also immer, neu war in den Jahren 2012 und 2013 aber, dass sich Geflüchtete aus vielen verschiedenen Orten organisierten und sich in größeren Städten zu mehrmonatigen oder sogar mehrjährigen Protestcamps zusammenfanden. 2012 zog ein Protestmarsch von Bayern nach Berlin, der in der dauerhaften Besetzung des Oranienplatzes in Berlin-Kreuzberg endete. In Bayern trat die theorieaffine Gruppe »Refugee Struggle for Freedom« mehrfach in Hungerstreiks für dauerhaftes Bleiberecht. In Hamburg und Berlin bildeten sich 2013 Gruppen von Geflüchteten aus dem italienischen Lampedusa, die durch ein italienisches Visum zwar zeitweise EU-Aufenthaltserlaubnisse hatten, aber nicht arbeiten oder Sozialleistungen beziehen durften. Die verschiedenen Protestmärsche und Besetzungen, das kollektive und widerständige Verlassen der Lager öffneten den geflüchteten Aktivist*innen die Möglichkeit, tatsächlich »im Protest zu leben«.

Dabei entstanden innerhalb der Bewegung auch Reibungen, es bildeten sich verschiedene Fraktionen - etwa in Bezug auf die Frage, ob neben den Forderungen nach Abschaffung der Lager, der Residenzpflicht und der Abschiebungen auch das Recht auf Arbeit als zentrale Forderung aufgenommen werden sollte, wie die »Lampedusa-Gruppen« es forderten. Weitere Konfliktpunkte bestanden, und bestehen weiterhin, im Verhältnis zwischen Geflüchteten und nicht-geflüchteten Aktivist*innen, insbesondere in Bezug auf rassistisches und paternalistisches Verhalten sowie Sexismen und die Unsichtbarkeit von Frauen und queeren Menschen in den Kämpfen. All dies ist kaum verwunderlich, denn auch linke Aktivist*innen sind geprägt von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Eher ist es umso bemerkenswerter, dass es Menschen, die auf so vielfältige Weise unterdrückt, verfolgt, gedemütigt werden und die unter derartig existenziellen Bedingungen kämpfen, gelingen kann, dennoch eine so starke Bewegung zu organisieren. Von den Aktionsformen und der Radikalität der Refugee-Bewegung kann die deutsche Linke also definitiv etwas lernen - aber wie kann dieses Lernen sich konkret gestalten, wie können sich die Erfahrung und das Wissen der Geflüchteten in linke Theorie und Praxis einschreiben? Diese Frage führt uns wieder zurück zur Theorie von Marcuse.

Übersetzungsarbeiten

Kurz zur Person: Herbert Marcuse wurde 1898 in Berlin als Sohn einer jüdisch-großbürgerlichen Familie geboren und entwickelte seine Philosophie stets ausgehend von konkreten eigenen Erfahrungen. In einem Fernsehinterview kurz vor seinem Tod 1979 erklärte er, er sei »erzogen« worden durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der gescheiterten deutschen Novemberrevolution des Jahres 1918. Theorie und Praxis haben ihn gleichermaßen geprägt: die Theorie aus den Büchern, die er mit Freund*innen diskutierte und die Praxis des Soldatenrats in Berlin-Reinickendorf während der Revolution; eine Praxis, die scheiterte. Als die alten Militärs in die Räte gewählt wurden, verließ Marcuse den Soldatenrat. Nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 verließ er die SPD. Schon früh also erlebte er tiefe politische Enttäuschungen im Kampf der Arbeiter*innenklasse - das Proletariat hatte verloren. Aber warum? Mit dieser Frage nach dem revolutionären Subjekt wird sich Marcuse in seinem gesamten theoretischen Werk beschäftigen.

Meine geflüchteten Gesprächspartner*innen und ich haben nun vor allem folgende vier Punkte anhand von Marcuses Texten diskutiert: Wie entsteht politische Subjektivität? Woher kommt die dafür notwendige Sensibilität für die eigene Situation und das Leiden Anderer? Wie gelingt solidarische Organisierung? Kürzer gesagt: Wer handelt, aus welchen Einsichten heraus, wie und mit wem? Was Marcuse für die Übersetzungsarbeit zwischen Kritischer Theorie und migrantischem Protest attraktiv macht, ist unter anderem die Tatsache, dass er seinerseits als eine Art Übersetzer wirkte: zwischen der traditionellen Arbeiter*innenbewegung und der Neuen Linken, die sich in den 1960er Jahren in vielen westlichen Staaten formierte. So sah er in der ’68er-Revolte der Schwarzen, der Frauen und ökonomisch Marginalisierten zwar einen Katalysator für Erkenntnis und gesamtgesellschaftliches Aufbegehren. Er war aber zugleich überzeugt davon, dass es ohne gesellschaftliche Mehrheiten und verbindliche Organisation keinen gesellschaftlichen Wandel geben würde. Also übersetzte er die Impulse der Neuen Linken für diejenigen, die noch von der »Alten Linken« der Parteien und Gewerkschaften geprägt waren, in eine marxistische Sprache, warnte aber zugleich vor Sektiererei, übertriebener Ungeduld und überkommenen Klischees. Dabei argumentierte er etwa gegen den noch heute populären Gegensatz von Interessens- und Identitätspolitik: Die Arbeiter*innenklasse sei in Wirklichkeit schon immer divers gewesen, schon immer weiblich, schwul, lesbisch, migrantisch und vieles mehr.

Es ist eine Tatsache, dass Bewegungen mit verschiedenen Hintergründen lernen müssen, zusammenzufinden, und nach Marcuse fällt dabei einzelnen Kämpfen zu bestimmten Zeitpunkten die Funktion eines Katalysators zu - womit er eine Beschleunigung des Politisierungsprozesses meint. Die Refugee-Bewegung der Gegenwart kann als ein solches »aktivierendes Brennglas« für gesellschaftliche Missstände bezeichnet werden. Dabei machen sich die Beteiligten gerade in vielfältigen Bewegungen freilich auch falsche Bilder voneinander. Dies galt für Teile der Studentenbewegung der 1960er Jahre, die sich als Avantgarde wähnten, aber auch für Marcuse selbst, ihren Lehrer.

Die Refugee-Intellektuellen von heute vollziehen einen Bruch mit der Weise, wie im deutschsprachigen Integrationsdiskurs über die migrantischen »Anderen« gesprochen wird: Statt Geflüchtete eindimensional als zu verwaltendes Objekt zu sehen, sollen sie als handlungsfähige Subjekte wahrgenommen werden. Ein naheliegender Fehlschluss ist wiederum der Gedanke, dass es für politische Organisierung genügen würde, nur Betroffene für sich sprechen zu lassen. Die Einsicht der Kritischen Theorie, dass der Kapitalismus uns alle - wenn auch zum Teil unterschiedlich - beschädigt, geht verloren, wenn wir kritische Reflexion aufgeben zugunsten eines Standpunktes, der nur noch eigene Erfahrung gelten lässt. Denn seien wir ehrlich: Nicht alle Arbeiter*innen sind Sozialist*innen aus Berufserfahrung, nicht alle Frauen Feministinnen qua Geburt, nicht alle Migrant*innen teilen die antirassistische Utopie einer Welt ohne Grenzen. Die unbewussten und bewussten, praktischen und theoretischen Bedingungen für Befreiung oder auch nur für Protest sind komplizierter. Erst im gemeinsamen Handeln mit Anderen kommt es zu individuellen Veränderungen, die wiederum die Vorstellbarkeit politischer Veränderung stärken.

Entscheidend für Befreiungsprozesse erweisen sich in der Analyse der Refugees vor allem konkrete Orte und praktische Beziehungen: Hier werden andere Formen des Seins gedacht und teilweise erprobt. Wie Marcuse postuliert hat, entsteht widerständige Subjektivität in der Revolte selbst. »People were changing«, erzählt die Berliner Refugee-Aktivistin Napuli Paul. Emotionale Kommentare in Bezug auf die besetzten Plätze und Gebäude sowie die dort gelebten Beziehungsweisen waren zahlreich in meinen Gesprächen mit den Aktivist*innen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Menschen automatisch »besser« würden - vor einer Romantisierung von Revolten, die auch bei Marcuse selbst zu finden ist, muss gewarnt werden. Marcuses Konzepte der Randgruppe oder »des Weiblichen« weisen auch die Tendenz auf, in ein »Othering« zu verfallen, also die Revoltierenden nur als das Andere zum weißen, männlichen bürgerlichen Subjekt zu analysieren. Dies ist dann eine typische Pose des bürgerlichen Intellektuellen: Die Revolution machen immer die Anderen, ob nun das Proletariat, unterdrückte Völker, die Frauen oder rassifizierte Minderheiten.

Sensibilität als revolutionäre Tugend?

Weiterhin geht Marcuse in seiner Theorie davon aus, dass ein entstehendes revolutionäres Subjekt nicht nur seine Interessen kennen, sondern auch eine Sensibilität gegenüber den eigenen und fremden Verletzungen gewinnen müsste. Hinweise auf eine solche Sensibilität sah er vor allem bei Frauen, denen in sozialen Bewegungen oftmals die Aufgabe überlassen wird, persönliche Verbindungen zu stiften. Marcuse ist zuzustimmen, dass es eine spezifische Zurichtung des weiblichen Subjekts dahingehend gibt, eher die sorgenden, kümmernden Aufgaben zu tragen. Dennoch dürfen nicht allein die Frauen für die Errichtung neuer Beziehungsweisen oder gar des Sozialismus zuständig sein. Vielmehr darf nicht ausgeblendet werden, dass sich das patriarchale Geschlechterverhältnis - wie überall - auch im Widerstand reproduziert. Entsprechend ist Sexismus von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung bis hin zu körperlicher Gewalt auch in der Refugee-Bewegung ein Problem. Die Interventionen von weiblichen und LGBTIQ-Refugees sowie Feministinnen of Color haben dieses Problem längst aufgezeigt, finden jedoch bei einigen männlichen Refugees und weißen Antira-Aktivisten noch immer zu wenig Beachtung und Solidarität. Meine Interviewpartnerin Monika Mokre sagt über die Rolle von Frauen in der Bewegung: »We took care like hell« - »wir verrichteten höllisch viel Sorgearbeit«.

Die Organisation geflüchteter Frauen »Women in Exile« besteht wie erwähnt bereits seit 20 Jahren. Dennoch sind Stimmen von Frauen in der Bewegung weiterhin marginalisiert. 2016 besetzten deshalb geflüchtete und nicht-geflüchtete Frauen während einer Refugee-Konferenz im Hamburger Theater Kampnagel die Bühne, um sich den angemessenen Raum zu nehmen - ein weiterer Höhepunkt der Bewegung. In meinen Gesprächen mit »Women in Exile«, mit Napuli Paul und anderen Frauen zeigte sich, dass es vor allem die Frauen mit ihren Vereinen und Organisationen sind, die auf Konzepte wie Wissensvermittlung, gemeinsames Erlernen von Solidarität und Verlernen von Diskriminierung setzen. Angesichts dieser Erkenntnis definierte ich auch meine eigene Forschungsarbeit immer mehr als eine feministische, während ich vorher von mir als primär antirassistischer Aktivistin ausgegangen war.

Sensibilität in der Widrigkeit

Politische Subjektivität und Sensibilität sind für Marcuse subjektive Faktoren innerhalb der sozialen Bewegungen, die aber nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern unter widrigen Bedingungen, die Organisierung und Solidarität notwendig machen. Zu diesen Bedingungen gehören derzeit zweifellos die Lagerunterbringung von Geflüchteten, die Situation von Migrant*innen auf dem Arbeitsmarkt und der strukturelle Rassismus in Deutschland. Damit eine außerparlamentarische Linke in diesen Verhältnissen zu einer wirklich alternativen Organisierungsform finden kann, muss neben lokal-flexiblen und antiautoritären Gruppen eine übergeordnete Struktur entstehen, basierend auf einem Delegationsprinzip. Darauf wies Marcuse bereits in den 70er Jahren hin. Einige meiner Gesprächspartner*innen argumentierten heute ähnlich, sehen diese Aufgabe allerdings nicht vor allem bei sich. Turgay Ulu betont: »Der größte Teil der Verantwortung liegt bei den lokalen politischen Bewegungen.« Sprich, Refugees könnten Refugees organisieren, aber nicht auch alle anderen Menschen; sie haben selbst genug mit den spezifischen Unterwerfungen und Repressionen zu kämpfen.

Lokale Organisierung als Verantwortung

Es gilt zum einen, in Solidarität mit Refugees und anderen stark unterdrückten Personengruppen Verantwortung zu übernehmen und sie - wo gewünscht - praktisch zu unterstützen. Allianzen und Netzwerke können nur gebildet werden, wenn gesellschaftlich stärker positionierte Gruppen neben den geteilten Anliegen auch ihre Verwobenheit in postkoloniale und patriarchale Herrschaftsverhältnisse reflektieren. Die Erkenntnisse derjenigen müssen ernstgenommen werden, die zu den »Anderen« der Gesellschaft gemacht werden - was auf Refugees besonders zutrifft. Zum anderen gilt es, sich als Nicht-Geflüchtete selbst zu organisieren und Strukturen und Räume zu schaffen, die für heterogene Kämpfe offen sind und Übersetzungsprozesse ermöglichen. Gerade für dieses Wagnis der Übersetzung können Refugee-Intellektuelle dann auf vielen Ebenen ein Vorbild sein, da sie zwischen Reflexion und Aktion, organisierten und unorganisierten Refugees sowie zwischen Bewegung und politischer Öffentlichkeit permanent Übersetzungsleistungen erbringen: Theorie, die an der Veränderung von Gesellschaft mitarbeiten will, lernt aus der politischen Praxis.

Um abschließend noch einmal auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukommen: Die Refugee-Bewegung ist Ausdruck der anhaltenden globalen Ungleichheitsverhältnisse. Sie ist eine antirassistische, antikoloniale und antikapitalistische Bewegung, welche die menschenverachtende Zustände in Europa aufzeigt - ob an den EU-Außengrenzen, mitten in deutschen Städten oder in heruntergekommenen Sammelunterkünften auf dem Dorf. Sie macht neokoloniale Strukturen sichtbar und stellt klar, dass die kleine Gruppe der Reichen von diesen profitiert. Geflüchtete sind auch von den Härten besonders betroffen, denen letztlich alle Arbeiter*innen ausgesetzt sind: den immer prekäreren, isolierenden Jobs, den hohen Mieten, den Demütigungen und Entwürdigungen der Konkurrenz. Wenn wir den Erzählungen der Geflüchteten über Krieg, Flucht und die unsäglichen Lebensbedingungen in Deutschland zuhören, sollte in uns - wie Marcuse schreibt - ein Ekel vor einem gesellschaftlichen System aufkommen, das diese Dinge hervorbringt. Die Bewegung der Refugees ist hier ein Kristallisationspunkt, der aber eben auch beweist: Trotz Heterogenität und Isolierung können Menschen gemeinsam kämpfen. Dies ist eine Lehre, die für gegenwärtigen und zukünftigen Widerstand von Bedeutung bleibt.

Zum Weiterlesen:

Herbert Marcuse: Konterrevolution und Revolte. Suhrkamp, 1973;

Angela Davis: Rassismus und Sexismus. Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA. Elefanten-Press-Verlag, 1982.

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