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Zwischen Computerspiel und LSD-Trip: Susanne Kennedy zeigt mit »Jessica - an Incarnation« ihre jüngste Arbeit an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 7 Min.
Jessica, ein dauernd sitzender Messias mit durchdringendem Blick, kann die Menschen so sehen, wie sie wirklich sind.
Jessica, ein dauernd sitzender Messias mit durchdringendem Blick, kann die Menschen so sehen, wie sie wirklich sind.

Nach einer guten Stunde fährt eine Leinwand herunter, darauf die Projektion eines computergenerierten Modells der nun verdeckten Bühne: Ein paar Gestalten verlieren sich in einer Wüstenlandschaft, kleine leuchtende Feuer darum und Steinbrocken, von denen nicht klar ist, ob sie natürlichen Ursprungs sind oder von höheren Mächten glattpoliert wurden. In der Mitte eine Eremitage, in der verschwommen die Hauptfigur des Abends thront.

Dann erscheint auch ein Text. Man sei auf der Suche nach besonders intelligenten Menschen, heißt es. Zu diesem Zweck habe man in dem Bild eine Botschaft versteckt. Und natürlich will man nun sofort das Rätsel lösen, fährt mit den Augen die Grafik ab. Es ist eine äußerst clevere Spielerei, die sich die Regisseurin Susanne Kennedy hier erlaubt. Denn nicht nur ist man als Zuschauer plötzlich auf eine neue, gesteigerte Weise aufmerksam, man weiß auch, dass man hier gerade auf eine sehr simple, aber nicht weniger effiziente Weise manipuliert wird. Ob tatsächlich eine Botschaft zu entdecken ist, spielt gar keine Rolle, die Erfahrung, die man hier machen konnte, liegt darin, unbedingt auch zu den Auserwählten, den Erleuchteten gehören zu wollen, zu denjenigen, die mehr sehen können als die anderen. Bald darauf fährt die Leinwand wieder hoch, kaum ein paar Minuten hat dieser Intelligenztest gedauert, und doch enthält er im Kleinen den ganzen Abend. In Kennedys neuer Arbeit an der Berliner Volksbühne geht es um die Mechanik des Glaubens, um die Manipulierbarkeit durch Narrative und um das große Heilsversprechen, in sich selbst etwas Außerordentliches zu entdecken.

Der Bühnenabend »Jessica« erzählt in zwei Stunden die Geschichte einer Prophetin, die Anfang der 90er Jahre eine Schar Jünger um sich versammelt. Ihr Weg zur Erleuchtung besteht in einer Technik namens »Anamnesis«. Der Begriff entstammt Platons Erkenntnistheorie. Dieser zufolge sei alles Wissen in der unsterblichen Seele enthalten, der Mensch vergesse dieses jedoch bei der Geburt. Lernen sei mithin kein Weg, sich Neues anzueignen, vielmehr erinnere man sich an etwas, das zuvor verloren gegangen sei.

Die titelgebende Jessica hat eine App entwickelt, mit deren Hilfe die Nutzer die Schätze ihrer Seelen erschließen können. Im Zuge eines Rituals treten ihre Anhänger in die Eremitage und blicken in die Projektion an deren Rückseite. Ein schwarzer Strudel erscheint, in dem sich bald Strukturen zu Bildern formen, die jedoch niemals klar identifizierbar werden. Es sind beinahe Vögel, beinahe Fahrzeuge, beinahe Landschaften, beinahe Möbel.

Jessicas Anhänger brechen in Tränen aus, eine von ihnen stöhnt aber auch erschrocken: »Whoever did this is evil.« In der Tat sind diese Bilder beunruhigend, sie machen sich den sogenannten Pareidolie-Effekt zunutze, die Eigenschaft des menschlichen Gehirns, in allem bekannte Gefüge zu entdecken, ein Beispiel sind Wolkenformationen oder auch der berühmte Jesus-Toast. Jessicas App triggert dieses kognitive Vermögen des Gehirns, entzieht ihm aber seine Befriedigung, weil kein Bild restlos dechiffrierbar ist, nichts völlig Sinn ergibt. Mit dieser Leerstelle dringt Susanne Kennedy ins Zentrum des Religiösen vor. Was der Verstand nicht einordnen kann, muss einem anderen System zugeordnet werden, dem des Glaubens.

»An Incarnation« lautet der Untertitel dieser Inszenierung, womöglich wird der Messias in Jessica wiedergeboren. Sie wäre allerdings eine sehr heutige Gottestochter. Ihr Kult lungert in weiten Jeans-Schlaghosen und mit blonden Perücken auf den Häuptern um sie herum. Suzan Boogaerdt in der Hauptrolle sitzt die meiste Zeit in ihrer Eremitage, ein Mantel aus mehreren zusammengenähten Funktionsjacken fällt ihr über Hemd und Feinrippunterhose. Sie bewegt sich langsam, starrt ihre Jünger durchdringend an, zieht an ihrer E-Zigarette und pustet ihnen den Dampf ins Gesicht, presst etwas Milch aus ihren Brüsten in ein Horn und lässt sie trinken.

Was bei anderen Regisseuren wie eine grelle Parodie auf eine christliche Messe erschiene, entfaltet bei Kennedy einen gutmütigen Witz, der sich nicht an der Religiosität vergreift, vielmehr ihren Ursprung aufzudecken sucht. Jessica kritisiert einen ihrer Jünger, dieser sei völlig falsch gelaufen. Das sei nicht sein Gang gewesen. Nicht zufällig trägt sie einen Namen, der im Hebräischen die Bedeutung »Gott schaut (dich an)« hat. Sie behauptet eine klare Sicht auf den Menschen, reklamiert für sich, sie als einzige so sehen zu können, wie sie wirklich sind. Ganz nebenbei ergibt sich hier ein Gewaltverhältnis, denn natürlich will ein Mensch immer der Wahrheit über sich selbst entsprechen. Wer diese für sich reklamieren kann, erhält Macht. Keine Realitätsverzerrung könne man ihr vorwerfen, beteuert Jessica etwas zu eifrig, sei die von ihr geschaffene Realität doch viel authentischer.

Die Überwindung der Wirklichkeit ist ein ständiges Thema in Susanne Kennedys Arbeiten. Ihr Theater ist hochartifiziell. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sprechen ihre überwiegend englischsprachigen Texte nicht selbst, sondern sie bewegen nur die Lippen synchron zu den vom Band eingespielten Stimmen. Haben sich die Sprecher in den Aufnahmen verhaspelt, müssen auch die Schauspieler neu ansetzen. Ihre Figuren, mitunter Avataren nicht unähnlich, wissen sehr genau um ihre Künstlichkeit, sie finden ihren Fluchtpunkt nicht in klaren Motivationen, in Gefühlen oder in der leibhaftigen Anstrengung des Performers selbst, sondern sie sind bereits in ihrem Ursprung vermittelt.

Mit Markus Selg hat Kennedy einen Kompagnon gefunden, der diese Grundidee visuell komplettiert, seine Videoinstallationen und Bühnenbilder bereiten ihren Geschichten spiegelglatte Settings, die mal an Computerspiele, mal an LSD-Trips erinnern, vor allem aber nie nach Theater aussehen. Nur einmal fällt dieser künstliche Vorhang, die Premiere muss wegen technischer Probleme für einige Minuten unterbrochen werden. Der Spott ihrer Kritiker ist Kennedy sicher. Sie ist eine Außenseiterin im Betrieb. Vor allem die ältere Regiegeneration stört sich an einem Theater, das sich gerade dem so vorbehaltlos hingibt, was sie als größte Gefahr ihrer Kunst ansehen: die voranschreitende Virtualisierung der Welt. Kennedy bejaht diese, versteht die Bühnenkunst selbst als Tool, das Bewusstsein spekulativ zu kartografieren.

Gott nimmt darin einen Ehrenplatz ein, als Leerstelle, die Menschen besetzen müssen, um nicht haltlos aus der Welt herauszufallen. Nicht der Gott des Christentums ist damit gemeint, sondern das zutiefst menschliche Bedürfnis nach etwas, das ein niederes Leben in Kontakt mit dem Transzendenten bringt, die eigene zufällige, dumme Existenz mit dem Wissen um eine höhere Wahrheit aufwertet.

Auch das Wort Verschwörungstheorie fällt in diesem Stück, das am vergangenen Donnerstag in der Berliner Volksbühne Premiere feierte, und tatsächlich könnten deren Anhänger als Jünger moderner Kulte beschrieben werden. »People do weird shit for karma«, heißt es an einer Stelle, womit eine conditio humana treffend beschrieben wäre. Ob mit Jessica wirklich der Messias auf Erden zurückkommt oder sie eine Betrügerin ist, die lediglich ihre App mit ein paar Lügengeschichten vermarktet, ist für die ohnehin etwas verwirrende Handlung kaum von Bedeutung. Der Wunsch nach ihm ist hier schon der eigentliche Gott.

Überall sind also Zeichen und Wunder zu erleben, überall bedecken schon Bedeutungen die Wirklichkeit, jene Sphäre, die man vielleicht tatsächlich göttlich nennen könnte, wäre sie nicht vom eigenen Glauben an dieses oder jenes bereits verhüllt. Doch Kennedy wäre nicht Kennedy, wenn sie nicht zumindest ein Blinzeln in diese tiefere Wahrheit zuließe. An zwei Stellen geschieht das. Nach dem Intelligenztest hebt sich die Leinwand wieder, und für einen Moment sind die Schauspieler ohne Perücken zu sehen, bloß und pur wirken sie nun auf einmal nicht mehr wie die Spielfiguren in einem größeren Plan. Und dann, am Ende, während die Eremitage vom Boden abhebt und in die Erleuchtung entschwindet, singen sie mit ihren echten, glockenhellen Stimmen Bob Dylans »All the tired horses«. Wie verletzlich, wie schön diese Kreatur da plötzlich wirkt, die sich selbst Mensch nennt.

Nächste Vorstellungen: 6. und 27. März

www.volksbuehne.berlin

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