Der neue europäische Stammeskrieg

Die Solidarität mit der von Russland angegriffenen Ukraine ist enorm. Doch wieso geht uns die jahrelange Bombardierung Jemens nicht genauso nah?, fragt Sheila Mysorekar

Ich bin entsetzt über die Vorgänge in der Ukraine, über die Aggression Russlands, den laufenden Angriffskrieg und die reale Gefahr eines Atomkrieges. Ich unterstütze die Ukrainer*innen in ihrem Kampf für ihr Land. Aber ich wundere mich, wie über diesen Konflikt berichtet wird.

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Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 170 postmigrantischen Organisationen. Für „nd“ schreibt sie die monatliche Medienkolumne „Schwarz auf Weiß“.

»Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.« Am Tag nach dem Angriff nahmen viele Zeitungen diesen Satz von Annalena Baerbock als ihren Titel. Diese Aussage ist befremdlich, erst recht von einer Außenministerin. Auch vor dem Angriff auf die Ukraine herrschte Krieg in vielen Ländern der Welt. Aber dies wird als irgendwie gottgegeben hingenommen, auch in den Medien. Irgendwelche Stämme bekriegen sich wegen irgendwas - Land, Ehre, Religion, wer weiß das schon. Selten geschieht die Einordnung mit Termini wie »Selbstbestimmung« und »Souveränität« wie jetzt in der Ukraine. Und selten spürt man das Mitgefühl der Journalist*innen so wie jetzt. Vielleicht denken sie, wenn irgendwelche Stämme in Afrika aufeinander schießen, kann man sich ja nicht jedes Mal aufregen.

Das ist eine Frage des Blickwinkels. Stellen wir uns mal vor, afrikanische Medien würden folgendermaßen über die Ukraine berichten:

»Seit dem Zweiten Europäischen Stammeskrieg gab es viele kriegerische Konflikte in Europa, so zum Beispiel den jugoslawischen Stammeskrieg mit grausamsten Massakern oder den jahrzehntelangen Religionskrieg auf der abgelegenen Insel Irland, der erst 1998 mit einem brüchigen Friedensabkommen endete. Nun ist die slawische Regionalmacht Russland unter Führung des Despoten Putin im Territorium eines anderen slawischen Stammes einmarschiert. Die westeuropäischen Stämme sind abhängig von der Lieferung russischen Erdöls und befürchten einen Zusammenbruch ihrer Wirtschaft, was große Flüchtlingsströme auslösen könnte. Die afrikanischen Staaten beobachten die Destabilisierung des östlichen Europa mit Sorge.«

Der russische Einmarsch weckt die schlimmsten Befürchtungen der Deutschen. Ich glaube aber, unterbewusst denken die meisten, ein »Weltkrieg« sei es nur dann, wenn europäische Nationen gegeneinander kämpfen. In der britischen Zeitung »The Telegraph« standen im Bezug auf die Ukraine einige entlarvende Sätze: »Sie sehen aus wie wir. Das macht es so schockierend. Krieg ist nicht länger etwas, das nur arme und weit entfernte Völker trifft.«

Das Argument, der Krieg in der Ukraine macht uns deshalb betroffen, weil er in der Nähe sei, stimmt nicht ganz; man muss sich nur eine Landkarte anschauen. Libyen beispielsweise ist von Deutschland aus nur eine knappe Flugstunde weiter als Italien, also quasi um die Ecke.

Ich arbeite häufig in Krisenländern und kenne Libyen sehr gut. Ich habe miterlebt, wie die Menschen dort einen Diktator absetzten, die ersten freien Wahlen organisierten, sich in einen Bürgerkrieg verwickelten, der mit viel Geld, Waffen und Söldnertruppen aus westlichen Ländern und Russland angeheizt wurde – es ging schließlich um Öl. Es war herzzerbrechend, wie eine Kollegin aus Benghazi weinte, als sie von der Bombardierung ihrer Stadt erzählte. Die Häuserzeilen, die ich so gut kenne, sind nur noch Ruinen. Mein Lieblingscafé ist weggebombt.

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Über Libyen wurde durchaus in deutschen Medien berichtet, anfangs viel, irgendwann verlor sich dann das Interesse. Das Einzige, was nach wie vor im Fokus steht, ist ein Nebeneffekt des Krieges: dass die Afrikaner*innen, die früher zahlreich ins reiche Libyen kamen, um dort zu arbeiten, stattdessen in Lagern eingepfercht werden und unter Lebensgefahr in Booten nach Europa fliehen.

Der Krieg selber wird als ein Problem unter den dortigen »Stämmen« abgetan, die sich halt bekämpfen und deren Motive man auch nicht verstehen muss. Und was selten thematisiert wird: das Leid der Menschen. Die Kinder, die nicht mehr in die Schule gehen können. Die jungen Veteranen, die Gliedmaßen verloren haben. Die hilfesuchenden Flüchtenden.

Unser Verbündeter Saudi-Arabien bombardiert seit 2015 im Jemen die Zivilbevölkerung. Dort herrscht die größte humanitäre Katastrophe der Welt. Wieso ist die Invasion der Ukraine gravierender als die Invasion Jemens? Wenn wir zugunsten von Menschenrechten auf russisches Gas verzichten können, warum eigentlich nicht auf saudisches Öl?

Ukraine. Jemen. Syrien. Afghanistan. Somalia. Südsudan: Jeder Krieg ist ein Weltkrieg für die Menschen, deren Welt zerstört wird.

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