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Lückenhafte Versorgung und erschreckende Mängel

Die medizinische Versorgungslage für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist mangelhaft. Eine Recherche ermittelte regionale Versorgungsengpässe und massive Missstände in der Behandlung

  • Julia Trippo
  • Lesedauer: 4 Min.
Frauen wehren sich - gegen Vergewaltiger, Ärzte, Richter und das Patriarchat! Unsere Fotoreihe zeigt einige Momente dieser Aufbrüche der feministischen Gesundheitsbewegung aus den Archiven.
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Rund 100.000 Abtreibungen werden in Deutschland pro Jahr laut Statistischem Bundesamt durchgeführt. Der Bedarf für einfach zugängliche Behandlungen ist also groß. Trotzdem ist die medizinische Versorgung sehr lückenhaft – und regional extrem unterschiedlich. Diese Erkenntnisse stammen aus umfangreichen Auskunftsanfragen des Netzwerks CORRECTIV.Lokal bei öffentlichen Kliniken mit gynäkologischer Station. Nur knapp 60 Prozent gaben an, Abtreibungen durchzuführen.

1500 Betroffene aus allen 16 Bundesländern hatten anonym von ihren Erfahrungen berichten. Drei Viertel der Befragten ließen ihren Abbruch in ärztlichen Praxen durchführen, 17 Prozent im Krankenhaus. Die große Mehrheit der Befragten gab an, dass die Distanz zu den Behandlungsmöglichkeiten kein Problem war und sie den Abbruch in einem Umkreis von maximal zehn Kilometern durchführen lassen konnten.

Paragraf 219a: Information, nicht Werbung

Anzahl der Beratungsstellen,die einen Beratungsschein ausstellen

Schlechte Versorgung

Doch 170 Teilnehmende, das entspricht einem Anteil von 13 Prozent, mussten eine Distanz von mehr als 50 Kilometer zurücklegen. Dies kann zu weiteren Kosten, eventuellen Urlaubstagen, zusätzlichen Übernachtungen in Unterkünften oder Hotels führen oder bedeuten, dass es nicht möglich ist, eine Vertrauensperson mit dabei zu haben. Schwierig ist für einige Menschen das Beschaffen des Beratungsscheins, der nach Paragraf 218a von staatlich anerkannten Beratungsstellen ausgestellt wird und für die Durchführung von Abbrüchen bis zur 12. Schwangerschaftswoche erforderlich ist. Dafür ist die Versorgungslage in Deutschland generell schlecht, urteilt CORRECTIV. Doch es werden auch große regionale Unterschiede deutlich. In Thüringen gibt es besonders wenig anerkannten Beratungsstellen. In elf Landkreisen der Bundesrepublik gibt es sogar gar keine. Die meisten davon (neun) liegen in Bayern, zwei in Rheinland-Pfalz. Berlin und die Region Hannover sind im deutschlandweiten Vergleich am besten abgedeckt.

Neben Quantität fehlt es an Qualität

Nicht nur der Zugang zu den Beratungsstellen ist an einigen Stellen schwierig, sondern auch die Qualität des Beratungsgesprächs wurde von vielen der Betroffenen kritisiert. Die Umfrage zeigt, wie schwierig es den unfreiwillig Schwangeren zum Teil gemacht wurde. Jede Vierte, also 25 Prozent der Befragten, berichteten von Missständen wie etwa unprofessionelles Verhalten des medizinischen Personals, das sich beispielsweise in Demütigung, Vorwürfen oder Beleidigungen äußerte. So war es bei einer Studienteilnehmerin aus Thüringen, die 2017 folgendes bei einem Abbruch erlebte: »Es war furchtbar. Ich musste mich eine Stunde rechtfertigen, warum ich kein Kind haben möchte. Erst als ich vor Weinen nicht mehr reden konnte, habe ich die Bescheinigung bekommen.«
In den meisten Fällen fühlten sich die Personen in den Beratungsgesprächen sogar unter Druck gesetzt, die Schwangerschaft fortzuführen, in einigen wenigen zu einem Abbruch überredet.

Berichte von unsensiblem Personal

Ein Abbruch kann auf körperlicher und psychischer Ebene eine große Belastung sein. In einer solchen Situation brauchen Menschen Unterstützung und Verständnis. Doch leider haben Betroffene an mehreren Stellen des Prozesses negative Erfahrung mit dem Personal gemacht. In knapp 30 Prozent der Fälle gab es Problemen in der Versorgung, die während des Schwangerschaftsabbruches entstanden sind.

Dabei sind Situationen aufgetreten wie etwa eine fehlende Aufklärung oder Privatsphäre, eine fließbandmäßige Abfertigung und unsauber durchgeführte Abbrüche. Eine Teilnehmende aus Sachsen berichtet: »Ich habe Blut erbrochen und wurde weiter im Wartezimmer sitzen gelassen. Erst als ich ohnmächtig wurde, wurde ich in ein extra Zimmer gelegt. Nach einiger Zeit kam die Ärztin und meinte, es sei psychisch und ich solle einfach loslassen, auf Toilette gehen und es raus pressen.«

Ferner ist zwar der Schwangerschaftsabbruch nach einem medikamentösen oder operativen Eingriff beendet, aber auch an die Nachsorge muss gedacht werden. Knapp 15 Prozent der Umfrageteilnehmenden berichteten, dass sie keine oder eine schlechte Nachsorge ihres Abbruchs gehabt hätten. Komplikationen seien dadurch erst spät entdeckt worden. Und das sind nicht die einzigen schwerwiegenden Folgen.

Ungewollt Schwangere, die entweder schlecht versorgt oder von dem medizinischen Personal gedemütigt wurden, können davon auch traumatisiert werden – von dieser Erfahrung berichten viele der Teilnehmenden an der Umfrage. Wie etwa eine Person aus Nordrhein-Westfalen: »Die Ärztin, die den Abbruch gemacht hatte, war null empathisch. Sie ist der Grund, wieso das am Ende so dramatisch für mich war, so dass ich bis heute psychisch darunter leide. Sie hat mir unterschwellig Vorwürfe gemacht, dass mir die Schwangerschaft so spät aufgefallen ist. Außerdem hat sie mich genau auf den Ultraschall schauen lassen, und ich konnte das Herz vom Baby hören.«

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von »nd« mit FragDenStaat und CORRECTIV.Lokal. Das Netzwerk setzt datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen um. Zusammen wurden mehr als 300 öffentliche Kliniken zu Abtreibungen befragt. Die Ergebnisse stehen in einer Datenbank mit weiteren Infos online unter correctiv.org/schwangerschaftsabbruch

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