Boykott gegen alles Russische?

Wegen des Überfalls auf die Ukraine fordert das Ukrainische Buchinstitut, weltweit alle russischen Bücher und Verlage zu boykottieren

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Die EU hat am Mittwoch verfügt, dass russische Medien bei uns nicht mehr empfangbar sein sollen. Bis vor Kurzem funktionierte rt.de noch, doch bei den Nachrichtenportalen ria.ru und interfax.ru meldet der Rechner »Webseite nicht erreichbar« und zeigt einen kleinen Hund, der vergeblich nach einem Knochen schnappt. Im Zweiten Weltkrieg war das Abhören von »Feindsendern« verboten. Ich sah mich indes in einer Gesellschaft, die freie Meinungsäußerung garantiert.

Boykott gegen alles, was aus Russland kommt? Die Münchner Philharmoniker feuern ihren Stardirigenten Waleri Gergijew. Die Bayerische Staatsoper löst das Engagement von Anna Netrebko. Museen kündigen Vereinbarungen. Als ob die russische Armee wegen all dem aus der Ukraine abziehen würde. Aber wir sollen wissen, wo der Hammer hängt. Es könnte sein, dass die Frankfurter Buchmesse russische Verlage noch zulässt, aber einen Nationalstand wie für andere Länder soll es nicht mehr geben. Wie botmäßig werden nun deutsche Verlage sein, was Literatur aus Russland betrifft?

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Die auf dem Buchmarkt zu finden, das war ohnehin wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchen. Fällt nun auch das Wenige noch der Sorge zum Opfer, irgendwie als »Putin-freundlich« zu gelten? Wird auch Gusel Jachina, die sich jüngst kritisch zu diesem Krieg äußerte, mit ihrem neuen Roman auf die lange Bank geschoben? Die russische Autorenschaft ist doch seit jeher kritisch, staatliche Propaganda ist ihr kaum vorzuwerfen.

Genau das wird von ukrainischer Seite befürchtet. Wie das »Börsenblatt« meldete, appelliert das Ukrainische Buchinstitut zusammen mit anderen Institutionen wegen des Überfalls auf die Ukraine weltweit alle russischen Bücher und Verlage zu boykottieren. Man erinnere sich, wie schon in früheren Jahren in der Ukraine alles Russische bis hin zur Sprache geächtet war, so dass sich die russischstämmige Bevölkerung diskriminiert fühlte - das ist eine der Wurzeln der Konflikte, die wir jetzt schmerzhaft vor Augen haben.

Viele russische Bücher würden »zu Waffen und Vorwänden für den Krieg«, heißt es in dem ukrainischen Aufruf. Gegen diese »Infektion« wird gefordert, »die Verbreitung von Büchern russischer Autor*innen und Verlage durch die Buchhandlungen im jeweiligen Land zu stoppen …, keine Rechte mehr von russischen Verlagen zu erwerben oder Rechte an diese zu verkaufen; Russland, seine Verlagshäuser, Kulturzentren und Autor*innen von … internationalen Buchmessen und Literaturfestivals auszuschließen; Stipendien für Übersetzungen zeitgenössischer russischer Autoren in andere Sprachen zu beenden«.

Russische Gewalt und ukrainischer Wahnsinn oder andersherum. Wie soll man hierzulande da noch einen kühlen Kopf bewahren? Man ist dankbar, wenn Deniz Yücel, der Präsident des deutschen PEN-Zentrums, der in der Türkei wegen seiner Arbeit als Journalist eingesperrt war, in der »Welt« schreibt: »Wer ›Russia Today‹ und ›Sputnik‹ verbietet, wird künftig ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen, die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit in, zum Beispiel, Russland zu kritisieren.«

Ein Glaubwürdigkeitsproblem auch im Innern: »Warum sollte man es mündigen Bürgerinnen und Bürgern in Gouvernantenmanier vorenthalten, die russische Sicht der Dinge in Originalquellen zu lesen und zu hören? Spricht daraus nicht ein verheerendes Misstrauen gegen Verstand und Herz der eigenen Bevölkerung? Und selbst wenn so manche auf die russische Propaganda hereinfallen, besteht die Stärke liberaler Gesellschaften nicht genau darin, auch - pardon, my French - allerlei Scheißdreck aushalten zu können?«

Es gibt Gründe für Enttäuschung und Bitternis, was das russische Vorgehen betrifft, und sehr wenige Stimmen in der Öffentlichkeit, die jenseits verbreiteter Affektkommunikation die Lage analytisch zu durchdringen suchen. Ohnehin wächst in der Bevölkerung das Ressentiment. Ich muss einsehen: Was ich denke, glaube, wünsche, beeinflusst diese geopolitische Auseinandersetzung nicht. Dass mir aber jemand sagt, was ich lesen darf und was nicht, dagegen wehre ich mich.

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