Ostdeutsche Textilbranche sucht händeringend neue Fachkräfte

Große Sorge auch um Märkte in Ukraine und Russland

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Textilbetriebe in Ostdeutschland haben ein Imageproblem. Das merkt Heike Illing-Günther, Direktorin des Sächsischen Textilforschungsinstituts in Chemnitz, wenn sie in Schulen über ihre Branche spricht. Diese verdient ihr Geld mit Hightechprodukten und Fasern für die Automobilbranche und die Luftfahrt, für Krankenhäuser oder Wohnbereiche. Allein die Hälfte der Umsätze wird mit technischen Textilien erwirtschaftet, rund ein Drittel mit Heimtextilien, nur ein Zehntel mit klassischer Bekleidung. Viele Schüler aber, sagt Illing-Günther, fragten verblüfft: »Ihr strickt nicht nur Pullover?!«

Dieses Pullover-Vorurteil gilt es zu überwinden, wenn die Branche ihr akutes Personalproblem beheben will. Sie beschäftigt in Ostdeutschland 20 000 Menschen, davon allein 12 000 in Sachsen. Doch die 160 Unternehmen, die im Verband der Nord-Ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (vti) organisiert sind, könnten noch weit mehr gut ausgebildete Mitarbeiter gebrauchen. Es bestehe ein »Mangel an Facharbeitern«, sagt Thomas Lindner, Vorstand des vti und Chef eines Strumpfherstellers in Hohenstein-Ernstthal. Nach dem durch Corona bedingten Einbruch der Umsätze im Jahr 2020 habe es im folgenden Jahr eine »gewisse Wiederbelebung« gegeben. Allerdings hätten die Firmen »noch wesentlich höhere Umsätze erzielen können, wenn das erforderliche Personal dagewesen wäre«, sagt Lindner.

Dass es fehlt, liegt nicht nur am »Pullover-Vorurteil«, also fehlendem Wissen darüber, was in den Betrieben produziert wird und welche Aufgaben und Anforderungen damit verbunden sind. Lange galt die Branche auch als nicht sehr zukunftsfähig. Mit dem Ende der DDR war eine enorme Zahl an Betrieben abgewickelt worden; die Zahl der Mitarbeiter sank um 95 Prozent. Vom Spinnen bis zum Nähen wurden viele Arbeiten in Osteuropa oder Asien wesentlich billiger erledigt. Doch mit der Orientierung etwa auf technische Textilien oder qualitativ hochwertige Bekleidung gelang es, einen harten Kern an Unternehmen zu erhalten. Kenntnis davon drang freilich womöglich nicht in ausreichendem Maß an die breite Öffentlichkeit.

Dazu kommt der demografische Wandel. In vielen Unternehmen würden jetzt »Erfahrungsträger in den Ruhestand gehen«, sagt Nico Teutsch, Geschäftsführer der Otex Textilveredelung in Flöha, deren 90 Mitarbeiter veredelte und »hautschmeichelnde« Garne für Medizin und Strumpfherstellung produzieren: »So etwas gibt es in Europa sonst fast nicht mehr«, sagt Teutsch. Um die Produktion am Laufen zu halten, muss er freilich zunehmend Energie aufwenden, um Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten: »Das ist die oberste Führungsaufgabe.«

Wie schwer das ist, zeigt die Lage bei den Lehrstellen. 50 bis 60 Unternehmen im Verband bilden regelmäßig aus, sagt Jenz Otto, der vti-Geschäftsführer. Zuletzt boten sie 180 Ausbildungsplätze an. Fast ein Drittel davon kann freilich schon seit Jahren nicht besetzt werden. Firmen und Verband bemühen sich redlich, das zu ändern. Der Otex-Chef ist gemeinsam mit jungen Mitarbeitern regelmäßig auf Ausbildungsmessen präsent, bietet Praktika an, spricht mit Praktikanten persönlich über ihre Erlebnisse oder lädt sie sogar zum Sommerfest der Firma ein, um die Bindung zu vertiefen. Wer eine Ausbildung beginnt, bekommt die Übernahme praktisch garantiert - dreieinhalb Jahre im Voraus. Der Firmenchef spricht von regelrechtem »Azubi-Marketing«. Das Chemnitzer Forschungsinstitut bietet ein »Rucksackprojekt«, bei dem interessierte Jugendliche in einer Ferienwoche den Werdegang eines Rucksacks von der Herstellung der Faser bis zum Bedrucken erleben können. Wie erfolgreich die Maßnahmen sind, ist offen. »Einen Masterplan«, sagt Nico Teutsch, »gibt es nicht.«

Ein Faktor, der für die Rekrutierung entscheidend sein dürfte, ist die Entlohnung. In der Branche wird im Osten meist noch immer weniger gezahlt als im Westen. Nächste Woche beginnen Tarifverhandlungen. Die IG Metall fordert ein Lohnplus von sechs Prozent. Über ein Gegenangebot werde man erst im Laufe der Woche reden, sagt Otto. Er verwies zuvor freilich auf die enorme Belastung der Unternehmen durch stark steigende Kosten für Energie. Viel Spielraum dürften die Unternehmen nicht sehen.

Das liegt auch an generell düsteren Aussichten für die Branche wegen des Krieges in der Ukraine. »Die Angst ist sehr groß, die Folgen sind unabsehbar«, sagt Lindner. Er verweist auf »nd«-Nachfrage zum einen darauf, dass die Ukraine und Weißrussland »klassische Konfektionsländer« seien, zu denen es »eine ganze Reihe Geschäftsbeziehungen« gebe. Zum anderen sei Russland »traditionell ein sehr, sehr wichtiger Markt«, der sich zuletzt stabilisiert hatte und sogar eine leicht steigende Tendenz aufgewiesen habe. »Er ist im Moment natürlich komplett zum Erliegen gekommen«, sagt Lindner; ob er in absehbarer Zeit wieder floriert, ist unklar. Die Folgen könnten für manche Verbandsunternehmen existenziell sein. Man sei, so der vti-Vorstand, »in großer Sorge, ob sie das überstehen«.

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