Asyl auch ohne Verfahren

EU setzt vorerst auf freiwillige Umverteilung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

  • Fabian Lambeck, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihr Land bereits verlassen, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk am Donnerstag meldete. Da der Krieg weiter eskaliert, rechnen die Vereinten Nationen mit bis zu sieben Millionen Geflüchteten aus der Ukraine. Die für Menschen in Not nur schwer zu überwindende Festung Europa soll ihnen aber offen stehen. »Alle, die vor Putins Bomben fliehen, sind in Europa willkommen«, versprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Präsidentin unterstützt den Vorschlag ihrer Innenkommissarin Ylva Johansson, die »Massenzustrom-Richtlinie« erstmals anzuwenden. Die Richtlinie wurde nach den Bürgerkriegen in Jugoslawien für den Fall einer erneuten Massenflucht vorbereitet und liegt den Mitgliedsstaaten seit Mittwoch in Gänze vor.

Demnach müssten alle EU-Länder das gleiche, unbürokratische Verfahren zur Aufnahme von Geflüchteten schaffen. Diese müssten dann nicht das sonst übliche, langwierige Asylverfahren durchlaufen, sondern würden sofort einen vorübergehenden Schutz in der EU für ein Jahr erhalten, der noch einmal um zwei Jahre verlängert werden könnte. Bereits am Dienstag hatte die Kommissionspräsidentin im EU-Parlament für die Richtlinie geworben: »Wir planen, diesen zeitlich begrenzten Schutzmechanismus zu aktivieren, damit die Geflüchteten einen sicheren Status und Zugang zu Schulen, medizinischer Versorgung und Arbeit erhalten.«

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat ihre Zustimmung signalisiert: »Alle EU-Staaten sind zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine bereit. Das ist eine starke Antwort Europas auf das furchtbare Leid, das Putin mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg verursacht. Wir stehen gemeinsam solidarisch an der Seite der Menschen in der Ukraine.«

Am Donnerstag kamen die 27 Innenminister in Brüssel zusammen, um den Vorschlag der Kommission zu diskutieren. In der belgischen Hauptstadt sprachen sie auch über die in der Richtlinie vorgesehene freiwillige Umverteilung von Geflüchteten. Bittere Ironie der Geschichte: Ausgerechnet das sonst so asylfeindliche Polen trägt die Hauptlast des Flüchtlingsstroms - mehr als 570 000 sollen es derzeit sein. Die nationalkonservative Regierung in Warschau, die im Herbst noch eine »Abwehrschlacht« gegen irakische und afghanische Geflüchtete führte und dabei auch den Tod der Betroffenen billigend in Kauf nahm, gibt sich nun aufnahmebereit. Allerdings gilt diese Solidarität nur weißen Ukrainer*innen. Die EU-Kommission erklärte, dass sie »mit großer Sorge« Berichte verfolge, wonach Studierende aus afrikanischen Ländern von polnischen Beamten am Grenzübertritt gehindert wurden - auch mit Gewalt.

Der neue europäische Stammeskrieg
Die Solidarität mit der von Russland angegriffenen Ukraine ist enorm. Doch wieso geht uns die jahrelange Bombardierung Jemens nicht genauso nah?

Während Warschau bislang jeden Versuch abschmetterte, ein EU-weites Verteilungssystem für Geflüchtete einzurichten, ist die PiS-Regierung nun auf so ein System angewiesen, von dem auch die anderen Anrainerstaaten Slowakei, Ungarn und Rumänien profitieren würden. Die EU will vorerst auf freiwillige Umverteilung setzen. Zumal die Ukrainer*innen nach derzeit geltenden Regeln ohnehin das gesamte EU-Gebiet bereisen können. Für Diskussionsstoff sorgte auch, ob die Richtlinie auch für Menschen gelten soll, die in der Ukraine Asyl beantragt oder einen anderen Schutzstatus hatten.

Platz machen für Menschen in Not
In Berlin werden viele ukrainische Flüchtlinge ankommen - aber die landeseigenen Kapazitäten zur Aufnahme sind begrenzt

Der österreichische Innenminister Gerhard Karner verwies gegenüber den »Salzburger Nachrichten« auf Vorbehalte Österreichs und anderer Länder wie Polen und Ungarn. »Wir brauchen rasche und unbürokratische Hilfe für ukrainische Kriegsflüchtlinge, da hilft es nicht, wenn wir Drittstaatsangehörige miteinbeziehen«, so der Innenminister. Wie das stets gut informierte Nachrichtenportal »Euractiv« meldet, werden Menschen aus Drittstaaten wohl abgeschoben: »Die meisten von ihnen würden von der EU bei der Rückführung unterstützt werden, anstatt eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten«.

Unter den Ministern zeichnete sich am Donnerstag eine breite Mehrheit für den Vorschlag der Kommission ab.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.