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  • Berlin
  • Hebammen in der Berliner Krankenhausbewegung

Wenn nicht genug Zeit ist, übernimmt die Maschine

Vier Berliner Hebammen berichten über Geburtshilfe im Kreißsaal unter den Bedingungen von Fallpauschalen

  • Julia Dück und Julia Garscha
  • Lesedauer: 15 Min.

Luisa Hahn, Denise Klein-Allermann, Karla Laitko und Nina Negi sind Hebammen und alle vier auch in der Berliner Krankenhausbewegung aktiv. Im Interview berichten sie, wie sich ihr Arbeitsalltag und die Bedingungen für gute Geburten verändert haben, seit das DRG-System, also die Abrechnung über Fallpauschalen auch ihren Arbeitsbereich bestimmt. Das Interview führten Julia Dück und Julia Garscha. Sie sind Herausgeberinnen einer in Kürze bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erscheinenden Broschüre mit dem Titel »Aus Sorge kämpfen. Von Krankenhausstreiks, Sicherheit von Patient*innen und guter Geburt«. Sie kann unter www.rosalux.de/publikation/id/45949 heruntergeladen werden.

Wie nehmen Sie Ihre Arbeitsbedingungen wahr und in welcher Weise haben sich die Anforderungen an die Arbeit in den letzten Jahren verändert?

Karla Laitko: Vor einem Jahr habe ich mein Examen gemacht und ich habe in dieser Zeit in verschieden großen Häusern Erfahrungen gesammelt. Dabei habe ich von Anfang an gemerkt, dass man mit extrem hoher Arbeitsbelastung und viel Stress konfrontiert ist. Nach meiner Ausbildung in einem großen Haus bin ich deshalb bewusst in ein kleineres Haus gegangen. Ich wollte nicht mehr mit einer so hohen Arbeitsbelastung konfrontiert sein. Aber das hat nicht geklappt: Aktuell arbeite ich bei Vivantes in einem kleineren Haus - auch hier ist die Belastung sehr hoch und steigt stetig.

Denise Klein-Allermann: Bei mir ist es ähnlich. Ich habe meine Ausbildung 2013 auch in einem sehr großen Haus begonnen. Wir hatten über 3500 Geburten im Jahr. Auch ich habe mich nach der Ausbildung für die ersten Jahre ganz bewusst für ein kleines Haus entschieden. Erst vor einem Jahr bin ich wieder in ein großes Haus gewechselt. Unabhängig davon, wo ich war: als Auszubildende, im kleinen Haus oder jetzt im Großen - die Arbeitsverdichtung ist extrem.

Frau Hahn, Frau Negi: Sehen Sie als derzeit noch Auszubildende das ähnlich? Haben Sie ebenfalls Zeitdruck?

Luisa Hahn: Ja, absolut. Ich bin jetzt im dritten Lehrjahr und komme gerade aus einer Nachtschicht mit sechs Geburten. Wir Schüler*innen werden in solchen Schichten wie Vollzeitkräfte eingesetzt. Es gibt zwar immer eine examinierte Hebamme, die für uns ansprechbar ist, aber die Betreuung der Gebärenden machen wir bis zur letzten Presswehe allein.

Nina Negi: Meine Erfahrung ist auch, dass wir weniger als Lernende denn als Vollkräfte eingesetzt werden. Wenn sechs Geburten gleichzeitig laufen und zu wenig Personal da ist, geht das auch nicht anders. Dann springst du genauso hin und her und arbeitest auf eine Weise, die du eigentlich nicht willst. Und das schon im dritten Lehrjahr. Man wird da schnell jemand, der man nicht sein will, sobald man sich seine Krankenhaus-Kleidung anzieht.

In der Praxis stehen Sie unter Zeitdruck. Was lernen Sie in der Theorie?

Luisa Hahn: Es gibt eine riesige Diskrepanz zwischen dem, was wir in der Schule lernen, und dem Arbeitsalltag in der Klinik. Wir lernen etwa, dass eine Eins-zu-eins-Betreuung und die gemeinsame Entscheidungsfindung mit den Gebärenden zentral sind. In der Klinik ist das aber nicht zu erfüllen. Es ist kaum möglich, länger zu sprechen und zu erklären, welche Art der Untersuchung ansteht oder beispielsweise behutsam eine Vaginaluntersuchung anzukündigen. Am ersten Tag in der Praxis habe ich noch so begonnen, habe alle Optionen genannt und die Frau miteinbezogen. Aber schon bei der ersten Frau hat mich die anleitende Hebamme darauf hingewiesen, dass dafür keine Zeit sei.

Karla Laitko: Genau. Das hohe Niveau der Lehre, die dort vermittelten Ansprüche - auf Augenhöhe sprechen, alles erklären und Alternativen aufzeigen, Mitsprachemöglichkeiten bieten und eine gute Betreuung leisten - lassen sich in der Praxis nicht realisieren.

Denise Klein-Allermann: Mit wenig Zeit muss priorisiert werden: Was ist das Wichtigste für die Frau? Welche Informationen sind für sie jetzt wichtig? Wie kann ich ihr Sorgen nehmen? Das ist nicht ideal. Eine Priorität hat für mich trotzdem immer, den Frauen zu erklären, was ich mit ihnen mache. Denn oft kommt es zum Beispiel vor, dass die Frau vaginal untersucht wird und bevor das erklärt oder angekündigt wird, sind die Finger schon in der Scheide. Das finde ich sehr respektlos.

Was sind die Gründe für die Arbeitsverdichtung und den Zeitdruck?

Karla Laitko: Zu wenig Personal für immer mehr Geburten. Als ich angefangen habe, hatten wir jährlich 1600 Geburten. Dieses Jahr werden wir ungefähr 1900 Geburten haben. Das Personal ist zwischenzeitlich nicht erhöht worden - und es war vorher schon zu knapp bemessen. Die Folge sind Überstunden, fehlende Pausen, Stress.

Denise Klein-Allermann: Außerdem fallen immer mehr Aufgaben in unseren Bereich, die nicht unsere Zuständigkeit betreffen. Durch den Zusammenschluss von Abteilungen müssen wir zum Beispiel eine fachfremde Rettungsstelle mitbetreuen. Das bedeutet, dass wir uns um Erste-Hilfe-Fälle kümmern müssen, die nichts mit Schwangerschaft und Geburt zu tun haben. Unsere eigene Arbeit bleibt liegen. Der Personalmangel kommt hinzu, Stellen werden nicht nachbesetzt oder einfach gestrichen. Das wird dann individuell kompensiert - oft durch Anpassung. Man schraubt den eigenen Anspruch runter, um alles zu schaffen.

Es sind demnach vor allem die Rahmenbedingungen, die Ihnen das Arbeiten erschweren?

Denise Klein-Allermann: Zum allergrößten Teil ja. Hinzu kommt aber, dass Schwangerschaft und Geburt zunehmend pathologisiert und einem Kontrollzwang untergeordnet werden. Es gibt kaum noch eine Schwangerschaft, die nicht als Risikoschwangerschaft gilt. In jedem Mutterpass ist mindestens ein Risiko angekreuzt. In der Folge wird extrem engmaschig betreut. Schon in der Schwangerschaft werden die Frauen stark verunsichert und von ihren Gynäkolog*innen früh zu uns geschickt. Das nimmt zusätzlich Aufmerksamkeit und Zeit von Hebammen in Anspruch, die dann bei den Geburten im Kreißsaal fehlen. Das gab es vor 20 Jahren nicht.

Wie lässt sich das erklären?

Karla Laitko: Auf der einen Seite ist es der Wunsch nach Absicherung. Niemand will die Verantwortung tragen, wenn etwas schiefläuft. Hinzu kommt ein gesellschaftliches Bild von Geburt als einem risikoreichen Zeitraum im Leben einer Frau und im Leben des Kindes, das geboren wird. (...)

Luisa Hahn: Die Perspektive hat sich verschoben: Natürlich ist die Geburt ein besonderes Ereignis, aber es ist keine Krankheit. Diese Sichtweise ist in der Gesellschaft aber immer weniger verankert.

Welche Aufgabe hat eine Hebamme in dieser Situation?

Luis Hahn: Weil die Geburt ohnehin angstbehaftet ist, ist unsere Perspektive wichtig. Hebammen sind Hüter*innen der Physiologie. Das haben wir im ersten Lehrjahr gelernt. Geburten sind etwas Normales. Frauen kommen mit Wehen, haben Schmerzen, sie wissen nicht, was los ist, und es entsteht Angst. Da ist es wichtig zu sagen: »Schmerzen sind normal und ich bin bei dir.« Medikamente und Technik helfen nicht immer am besten. Wenn eine Frau sehr schmerzhafte Wehen hat, hilft es vor allem, ihr beizustehen, da zu sein und sie zu bestärken. Das geht nicht, wenn die Frau allein auf dem Zimmer liegt.

Karla Laitko: Wenn wir als Hebammen nicht genug Zeit haben, weil wir drei Frauen gleichzeitig betreuen, fachfremde Notfälle mitbearbeiten, ans Telefon gehen oder tausend andere Sachen machen müssen, ist die Alternative leider oft, dass die Maschine übernimmt.

Die medizinisch-maschinelle Kontrolle des Geburtsvorgangs ersetzt also die Betreuung - lässt sich das so beschreiben?

Karla Laitko: Ja, im Prinzip schon. Das darf aber nicht der Standard sein, denn das ermöglicht keine gute Betreuung. Idealerweise sollte ich die Gebärende ab der Aufnahme in den Kreißsaal kontinuierlich vom Aufnahmebogen bis zur Geburt im Rahmen meiner Schicht betreuen. Damit sie Vertrauen zu mir aufbaut und ich Zeit für die Untersuchungen habe, die hebammenspezifisch sind, und die für eine Ärztin vielleicht nicht unbedingt in den Untersuchungskatalog gehören. Zum Beispiel ertaste ich mit den Händen, wie das Kind im Bauch liegt oder wann die Wehen kommen. Das sind Sachen, die mit den technologischen Möglichkeiten heute in den Hintergrund treten.

Das gilt auch für eine weniger einschränkende Herztonüberwachung: Statt dauerhaft ein CTG schreiben zu lassen, das die Herztöne aufzeichnet, würde es ausreichen, das in bestimmten Abständen mit einem Dopton - das ist ein kleines, tragbares Ultraschallgerät - zu kontrollieren. Dafür müsste ich aber mindestens alle 15 Minuten bei der Frau sein. Es bräuchte eine Eins-zu-eins-Betreuung, damit ich Veränderungen bemerke - etwa die Art, wie die Frau mit den Wehen umgeht, ihre Bewegungen, ihr Gesicht, die Hautfarbe. Es sind Sachen, die man als Hebamme über die Jahre lernt zu beobachten. Sie können viel über den Geburtsverlauf aussagen. Aber dafür haben wir keine Zeit.

Sehen das die Ärzt*innen im Kreißsaal ähnlich?

Karla Laitko: Nein, hier zeigt sich ein unterschiedlicher Blick von Ärzt*innen und Hebammen: Für mich als Hebamme gibt es bestimmte Parameter, die ich überprüfe, um sicherzugehen, dass es Mutter und Kind gut geht. Wenn diese in Ordnung sind, gehe ich davon aus, dass alles gut läuft. Aus ärztlicher Perspektive wird das oft anders definiert - für sie gehört zum Beispiel die permanente Überwachung der Herztöne - vom Fötus bis zur Geburt des Kindes - dazu. Gleichzeitig gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis über den Nutzen einer kontinuierlichen Überwachung der Herztöne bei einer risikoarmen Geburt. Im Gegenteil: Die Frauen können sich nicht frei bewegen, weil das CTG dann nicht richtig funktioniert. Die Bewegungseinschränkung bei der Geburt wiederum kann Folgekomplikationen und Interventionen mit sich bringen. Da unterscheidet sich die Sicht der Berufsgruppen.

Wird medizinischen oder pathologischen Aspekten eine größere Bedeutung zugemessen als Betreuungstätigkeiten?

Nina Negi: Die pflegerischen und betreuenden Tätigkeiten sind nicht abrechenbar. In einem wirtschaftlich orientierten Betrieb haben sie keinen Platz. Auch in den DRGs ist das kein Abrechnungspunkt. Stattdessen dominiert hier eine andere Logik. Zeit ist hier ein zentraler wirtschaftlicher Faktor in der Abrechnung nach Fallpauschalen: Durch Planbarkeit, einen geplanten Kaiserschnitt beispielsweise, oder andere Interventionen (wie etwa Wehenmittel, Dammschnitt oder Saugglocke; Anmerkung »nd«) kann eine Geburt beschleunigt werden, so dass mehr Fälle angenommen werden können. Für das Krankenhaus ist das rentabel.

Welche Folgen hat das für Gebärende?

Denise Klein-Allermann: Eine Geburt kann medizinisch gesehen gut gehen und trotzdem ist die Frau danach traumatisiert, weil sie während der Geburt stundenlang allein war. Solange medizinisch alles in Ordnung ist, der Monitor Normwerte anzeigt, findet meistens keine Betreuung statt. Die Begleitung ist aus medizinischer Sicht nicht relevant. Bei den Schwangeren löst das Ängste aus, sie fühlen sich in einer verletzlichen Situation alleingelassen. Auch nach mehreren Wochen haben sie immer noch damit zu kämpfen. Es gibt Frauen, die entscheiden sich während einer erneuten Schwangerschaft für einen geplanten Kaiserschnitt, weil sie sich niemals mehr so alleingelassen fühlen möchten wie bei der ersten Geburt. Das wird aber nicht aufgearbeitet, denn medizinisch gesehen ist ja alles gut gegangen.

Karla Laitko: Personalmangel kann aber auch ganz direkte medizinische Folgen haben. Viele Eingriffe werden überhaupt erst aufgrund von fehlendem Personal notwendig. Um das konkret zu machen: Eine Frau ist allein, sie hat Angst, sie verspannt sich, die Geburt verlangsamt sich. Für eine Ärztin bedeutet das: Wir haben eine Abweichung von der Physiologie, denn die Geburt schreitet nicht nach Norm voran. Folglich müssen wir intervenieren und dafür sorgen, dass sie mehr Wehen bekommt. Die Frau bekommt also einen Oxytocintropf. Daraufhin werden die Schmerzen stärker und sie hält sie nicht aus, weil sie ohnehin allein ist und Angst hat.

Dann bekommt sie eine PDA, eine Teilnarkose im Rückenmark. Aus Studien wissen wir, dass das wiederum die Rate an Kaiserschnitten und an medizinischen Interventionen allgemein erhöht. Die Frau hat dann eine PDA und der Oxytocintropf wird höher eingestellt. Darauf reagiert womöglich das Kind, weil das Kind die Geburt ja weiterhin spürt. Es reagiert mit Herztonabfällen, dann bekommen wir Stress. Irgendwann kommt dann eine Saugglocke zum Einsatz, damit die Geburt endlich beendet ist. Das sind die realen Konsequenzen. Das Outcome war okay, dem Kind geht es gut, der Mutter geht es auch halbwegs gut. Aber dass wir selbst diesen Verlauf produziert haben, weil wir nicht genug Personal für die Betreuung dieser Frau hatten, damit sie nicht in eine solche Angstspirale kommt, das finde ich wirklich schlimm.

Was macht das mit Ihnen, dass sich das Berufsbild und Ihr Anspruch so weit von der Realität entfernt haben?

Denise Klein-Allermann: Mein Anspruch ist es, dass ich schnell erfassen kann, in welchem Zustand die Frau ist und was sie braucht. Und auch, was die Begleitperson braucht, die wiederum einen großen Einfluss auf die Gebärende hat. Für einen solchen Eindruck muss ich mich zu ihr setzen können und mit ihr sprechen, ohne in Gedanken schon bei den anderen beiden Frauen zu sein, die ich betreuen muss. Das geht aber aktuell nicht.

Luisa Hahn: Ja, das kenne ich auch. Wir entschuldigen uns ständig, nicht da sein zu können, wenn die Frauen das brauchen. Wir sagen die ganze Zeit »sorry, sorry, sorry«. Man würde am liebsten Klartext sprechen und der Frau sagen, dass das ganze System so schlecht ist und man selbst es sehr bedauert, dass Frauen auf diese Weise Kinder bekommen müssen. Und dass wir dafür kämpfen und auf die Straße gehen müssen, damit sich das ändert.

Nina Negi: Durch die Riesendistanz zwischen Anspruch und Realität entsteht Frustration. Das stumpft ab und erzeugt eine Art Abgeklärtheit mit der Zeit. In meiner Klasse haben wir als Auszubildende gemerkt, wie sich unser Blick in zwei Jahren verändert hat. Mit Situationen, die uns am Anfang stark berührt haben, müssen wir einfach umgehen und irgendwann geht dabei ein Stück Empathie verloren. Weil du zu müde bist, zu viel zu tun hast. Gerade zu Beginn, wenn man plötzlich Verantwortung trägt und die Arbeitsverhältnisse noch nicht gewöhnt ist, ist das sehr schwer. Deswegen gibt es auch eine große Berufsflucht - ganz raus oder es werden Arbeitsstunden reduziert.

Luisa Hahn: Ja, bei Kolleg*innen, die vor 30 Jahren gelernt haben, beobachte ich, dass sie ausgebrannt sind von diesem System und sich angepasst haben. Unsere Hebammenmentorin betont, dass wir auf jeden Fall lernen müssen, zwei Frauen gleichzeitig zu betreuen. Das wird unsere Realität nach dem Examen sein. Das bedeutet Abstriche. Darin besteht das Dilemma.

Womit hängen die Verschiebungen im Berufsbild der Hebammen zusammen? Welche Gründe gibt es dafür?

Denise Klein-Allermann: Ich glaube, dass wir extrem viel verlernen. Ein typisches Beispiel ist die Beckenendlagengeburt. Vor 30 Jahren wurden Kinder in Beckenendlage vaginal geboren. Ein Kaiserschnitt war gar kein Thema. Es sei denn, es gab Kriterien, die dagegengesprochen haben. Heutzutage gibt es bei fast allen Beckenendlagengeburten einen Kaiserschnitt. Es gibt wenig Ärzt*innen, die die Handgriffe noch kennen, geschweige denn eine Hebamme. Irgendwann wird die vaginale Geburt in diesem Fall aussterben. Es wird einfach das »Sicherste« gemacht - nämlich ein geplanter Kaiserschnitt. Früher war die vaginale Geburt auch in diesem Fall der Standard. Da hatte man Zeit, die Frau war gut betreut, man hat den Frauen Zuversicht vermittelt. Es ist also auch eine Zeit- und Personalfrage.

Karla Laitko: Wenn nie Zeit ist, solche Handgriffe zu lernen, oder die Kolleg*innen, die mich anleiten, sie selber nicht mehr können, dann stirbt Wissen aus. Wir werden ausgebildet, ohne bestimmte Techniken zu erlernen, weil diesen im heutigen Klinikalltag keine Bedeutung mehr zugemessen wird. Dadurch verändert sich natürlich auch die praktische Ausbildung.

Wie lassen sich diese Bedingungen verändern? Sie sind alle Teil der Berliner Krankenhausbewegung und damit aktiv für bessere Bedingungen geworden. Was haben Sie dort erreicht?

Denise Klein-Allermann: Das Eckpunktepapier beinhaltet die besten Bedingungen, die für Hebammen je erstritten wurden. Für Außenstehende sind es Zahlen, die schwer greifbar sind. 90 Geburten pro Vollkraft ist das ausgehandelte Ergebnis. Ich arbeite gerade in einem Klinikum mit 166 Geburten pro Vollkraft. 90 Geburten im Jahr klingt vielleicht erst mal wenig. Aber da fallen alle Aufgabenbereiche mit rein, die nichts mit dem unmittelbaren Geburtsvorgang zu tun haben, wie beispielsweise die Geburtsanmeldung oder die OP-Vorbereitung. Wenn 90 Geburten pro Vollkraft wirklich so umgesetzt werden - wir brauchen zunächst erst einmal die ganzen Hebammen, um die Stellen zu besetzen - dann wäre das eine Wahnsinnsentlastung. Es wäre nahezu eine Eins-zu-eins-Betreuung, vielleicht Eins-zu-eineinhalb bis Eins-zu-zwei möglich. Das ist immer noch nicht ideal, aber es ist eine deutliche Verbesserung.

Nina Negi: Für mich war die Berliner Krankenhausbewegung eines der einschneidendsten Erlebnisse in meinem Leben. Mitgerissen zu werden von etwas Größerem. In Berlin gab es noch nie so viele Hebammen, die Kreißsaal übergreifend zusammenkamen. Das Erreichte ist ein sehr wichtiger Schritt. Jetzt geht es an die Umsetzung, was nochmal ein Kraftakt wird. Dafür braucht es vor allem das notwendige Personal.

Anders als in der Krankenpflege haben Sie keine Quotenregelung, die sich auf die Geburt bezieht. Sie berechnen den Personalbedarf über Jahreswerte. Warum?

Karla Laitko: Die Personaldichte wird von den Geburtenzahlen ausgehend berechnet. 2019 waren es beispielsweise 1600 Geburten. Durch 90 geteilt ergibt sich, wie viele Fachkräfte benötigt werden. Die Arbeitsbelastung und das Arbeitsaufkommen fluktuieren extrem. Daher ist eine Quotenregelung ausgehend von Fachkräften pro Geburt immer schwierig. Denn es gibt natürlich Schichten, wo beispielsweise keine Frau da ist und vier Hebammen zu viel sind. Und es gibt dann Schichten, wo plötzlich sechs Frauen da sind und dann sind vier Hebammen zu wenig. Deswegen ist eine Personalberechnung für den Kreißsaal wirklich schwer. Und deswegen war es auch gar nicht so einfach, zu diesem Ergebnis zu kommen. Immerhin bedeuten diese 90 Geburten pro Vollzeitkraft.

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