»Umgangen, überklettert, untertunnelt«

Mit Fleiß und Rasterblick hat Bernd Lindner über 410 Kunstwerke zum Thema Mauer versammelt

  • Peter Arlt
  • Lesedauer: 4 Min.

»Mauern, die um politische Gebilde herum errichtet werden, können nicht abwehren, ohne zugleich einzusperren« (Wendy Brown). Mit dieser Quintessenz wollte der Leipziger Kulturhistoriker und -soziologe Bernd Lindner in seinem neuen Buch »Über Mauern« über das Exempel der Berliner Mauer auf die gegenwärtigen neuen Abschottungen in der Welt blicken. Im Prolog erscheint die Mauer absurd, da der Mauererrichtung in Berlin sogleich die über 28 Jahre spätere Maueröffnung folgt, vom DDR-Volk als eine Befreiung empfunden und als »ungeteilter Himmel über Deutschland« bejubelt.

Als »offene Schande« beklagt Volker Braun die Mauer. Eine Variante des gleichnamigen Gedichtes, vom Dichter vorgeschlagen, ist dem Buchtext vorangestellt. Antithetisch fordert Braun: »Denn es ist nicht / Eure Schande: zeigt sie.«

Die sichtbare Schande der Mauer war zumindest nicht allein die der DDR, sondern ebenso die Schande der Gegenseite, des Westens. Lindner erinnert in der »Vorgeschichte« an den Anlass der Zerreißung Deutschlands: die separate Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen, die eine Währungsmauer errichtete, und mit der Staatsgründung im Westen eine politische Mauer. Diese versuchen Menschen auf der Jahresplakette 1954 von Peter Moll (DDR) für die Einheit Deutschlands umzustürzen. Vom Einheitswillen, aber auch über die wachsende Distanz wird berichtet mit einer kunsthistorischen Entdeckungsleistung von Bernd Lindner.

Bisher kaum bekannte Kunstwerke bereichern die Sicht auf die Teilung Deutschlands, so die Jahresplakette 1947 von Robert Propf, wo die Deutschen des industriellen Westens und des landwirtschaftlichen Ostens den Grenzpfahl vereint aus dem Graben der Sektorenteilung ziehen.

Schon vor der Mauererrichtung wurde auch die deutsche Kunst geteilt: die Westsektoren diktatorisch auf Abstraktion »ausgerichtet«, während man im Osten den sogenannten Formalismus verfolgte. Als Hermann Bachmann in Halle sein Weg versperrt wurde, floh er über die offene Grenze.

Ins Bild gerückt werden überwiegend die tragischen Ereignisse und die Mauer mit ihren Anlagen, die sich als Wunde schmerzvoll in die Stadt einschneidet und ihre Endlichkeit klarmacht. Das ist in den Bildern der Künstler zu sehen, die wie Núria Quevedo und Roland Nicolaus im Akademieatelier am Brandenburger Tor die Mauer einsehen und den Anblick mit der deutschen Geschichte verbinden konnten. Andere zeigten die Grenzanlage als ausgeklügeltes technisches Werk, das eine Satire des menschlichen Geistes darstellt oder wie im »Januskonzert« von Harald Metzkes sich auflöst.

Mit bewundernswertem Fleiß und einem Rasterblick zum Mauerthema entdeckte Lindner so viele Arbeiten, von denen nur eine kleinere Auswahl - über 410 Kunstwerke, Gemälde, Grafiken, Plastiken, Installationen und Performances - im Buch Platz fanden. Die über 260 Künstler kommen aus Ost und West, darunter Oskar Kokoschka mit »Berlin, 13. August 1966«. Im Kern geht es um die Jahre von 1961 bis 1990 unter Einbeziehung der Jahre davor und danach.

Bei der Bildauswahl konnte Lindner neben einigen Ikonen den Bildkanon zum Thema deutlich erweitern und lässt die Leser an seinen Entdeckungen teilhaben. Er ist mit dem geschichtlichen Prozess und mit der Kunstgeschichte der DDR vertraut, kennt Leben und Werk der Künstler und gibt den Betrachtern der Bilder des Buches über die Sinnzeichen sachkundig und fantasievoll Aufschluss.

Mit dem Mauerfall ging das Land nach dem Westen, es verlor sich die Hoffnung auf sozialistische Erneuerung. Im nationalen Taumel wurden die Interessen aus dem Blick verloren. Mit dem Kopf in den Boden der Geschichte gerammt wie in dem leider fehlenden Bild »Erdgeister« von Willi Sitte. Der Westen hat gegen die Ideen einer innovativen Gestaltung der Gesellschaft eine demokratisch bemäntelte Mauer aufgebaut, damit das politische System kanalisiert bleibt. Wie Gerd Lindner sagt, war »eine maßgebliche Mitwirkung Ostdeutscher (…) kaum noch erwünscht«. Für diesen politischen Prozess fand Uwe Pfeifer am Flusslauf der Saale die Sinnbilder »Umbruch, Hoffnung, Stille«.

Der kunsthistorische sollte den kulturhistorischen Blick ergänzen und mit christlicher Ikonografie das historische Geschehen bei Werner Tübkes »Herbst 89« zum allgemeinen Sinn führen: Beiderseits strömen Menschen durch den Durchbruch der Mauer, die zerklopft wird. Auf der Mauer empfangen sieben Engelsgestalten von Sturmwinden gedrehte herunterstürzende Strahlen in großen Becken und bezeugen die Ausgießung des »heiligen Geistes«. In drei Gefäßen empfangen sie noch, aus vieren gießen sie die Strahlen auf die Menschen unter ihnen, Einheitssinn verheißend. Verschiedene werden sich verständigen mit den sieben Gaben, wie sie Jesaja prophezeit: den Geist des Herrn, die Weisheit, den Verstand, den Rat, die Stärke, die Erkenntnis und die Furcht. Diese sieben Gaben erhoffte Werner Tübke, doch die Gaben des Zeitgeistes waren andere.

Das über die deutsche Kunstgeschichte hinaus problembewusste, bedeutungsvolle Buch will mit dem Wirken von Künstlern über trennende Mauern in aller Welt hinweg, vor allem gegen die Mauern in den Köpfen, den Prozess ihres Verschwindens - sie werden »umgangen, überklettert, untertunnelt oder durchlöchert« (Wendy Brown) - beschleunigen. Mit dem berührenden Schlussbild: Gegen die Mauer oder über sie hinweg lässt der Street-Art-Künstler Bansky einen Straßenkämpfer keinen Molotowcocktail werfen, sondern einen Blumenstrauß.

Bernd Lindner: Über Mauern. Teilung, Friedliche Revolution und Deutsche Einheit in der bildenden Kunst. Bundeszentrale für politische Bildung 391 S., br., 7 €.

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