Südkorea vor Richtungsentscheidung

Bei der Präsidentschaftswahl treffen mit Lee und Yoon zwei Weltanschauungen aufeinander

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 4 Min.

»Die Kandidaten für diese Wahl in diesem Jahr«, betonte die Tageszeitung »Hankyoreh«, »sind als die unbeliebtesten der Geschichte beschrieben worden. Und das ist wahr.« Schließlich schneiden die zwei aussichtsreichsten Anwärter auf den Präsidentschaftsposten, der linksliberale Lee Jae-myung und der rechtskonservative Yoon Suk-yeol, in Beliebtheitsbefragungen jeweils eher schlecht ab. Die Politikprofessorin Kim Hyung-A von der Australian National University hat die Angelegenheit schon als Entscheidung »für das geringere Übel« bezeichnet.

Der Wahlkampf um das Präsidentenamt läuft so schmutzig ab wie nie zuvor. Mehrmals haben sich die beiden führenden Kandidaten gegenseitig Korruption, persönliche Verfehlungen und Unehrlichkeit vorgeworfen. Yoon Suk-yeol verlor um den Jahreswechsel sein komplettes Wahlkampfteam. Seine Frau hat zudem ihren Lebenslauf gefälscht. Im Umfeld Lee Jae-myungs gibt es unter anderem Vorwürfe der Veruntreuung. So sehen viele Beobachter im aktuellen Wahlkampf vor allem eine Schlammschlacht, kaum noch einen Wettbewerb um Ideen.

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Dabei entscheiden die Menschen aus Südkorea sehr wohl über politische Inhalte, wenn sie am 9. März ihr Kreuzchen machen. Denn mit Lee und Yoon prallen zwei Weltanschauungen aufeinander: Auf der einen Seite wird für stärkere staatliche Eingriffe geworben, um die über die letzten Jahre gewachsene Ungleichheit abzufedern. Auf der anderen Seite steht die Idee der Eigenverantwortung, der stärkeren Belohnung für Risiko und Erfolg.

Der schlankere Staat wird von Yoon Suk-yeol verkörpert. Der Mann aus einer wohlhabenden und gebildeten Familie hat zuletzt als Generalstaatsanwalt gearbeitet, gibt sich als Kandidat des Establishments, wenngleich er auch für Wandel stehen will. Schließlich gehört Yoon der konservativen und derzeit oppositionellen People’s Power Party an. Yoon stellt sich gegen den scheidenden Präsidenten Moon Jae-in von der linksliberalen Demokratischen Partei, der laut Verfassung nach einer fünfjährigen Amtszeit nicht erneut antreten darf. Moon hatte vor fünf Jahren etwa mit einer stärkeren Kontrolle der im Land mächtigen Großkonzerne um Samsung, Hyundai und LG sowie höheren Mindestlöhnen geworben. Beide Versprechen blieben weitgehend unerfüllt. Yoon interessiert sich für solche Vorhaben weniger, wirbt dagegen mit Marktwirtschaftlichkeit - unter anderem in Form der Abschaffung der Kapitalertragssteuer, die er als unnötige Belastung von Steuerzahlern sieht. In Zeiten hoher Aktienpreise wird dies von der Gegenseite als zynisch und unsozial kritisiert.

Yoons Kontrahent Lee Jae-myung, der in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, als Kind durch Fabrikarbeit die Familie unterstützte und auf dem zweiten Bildungsweg Anwalt wurde, erklärt sich dagegen zum Advokaten der Unterprivilegierten. So fordert der Kandidat der regierenden Demokratischen Partei nicht nur Kreditgarantien, damit inmitten hoher und steigender Immobilienpreise auch Geringverdiener eine Wohnung kaufen können. Auch das Kindergeld von 100 000 Won pro Monat (rund 73 Euro) soll statt bisher bis zum siebten Lebensjahr künftig bis zur Volljährigkeit ausgezahlt werden.

Das prominenteste Element seiner Kampagne aber ist ein bedingungsloses Grundeinkommen. Lee, der 2018 zum Gouverneur der die Hauptstadt Seoul umschließenden Provinz Gyeonggi gewählt wurde, hat dort auch schon testweise ein Grundeinkommen eingeführt. Sollte er zu Südkoreas Präsidenten werden, soll ab 2023 jede erwachsene Person zumindest 250 000 Won (183 Euro) pro Jahr erhalten.

Bis zum Ende der fünfjährigen Amtszeit 2027 soll sich der Wert dann vervierfacht haben. Für 19- bis 29-Jährige, die auf dem Arbeitsmarkt besonders oft benachteiligt sind, hat Lee schon von Anfang an 1,2 Millionen Won (879 Euro) jährlich versprochen. Das Geld würde auf spezielle Kreditkarten überwiesen und könnte drei Monate lang bei Unternehmen aus der Region ausgegeben werden. So sollen auch lokale Betriebe profitieren. Nach deutschen Standards klingen diese Versprechen nach äußerst wenig Geld. Im südkoreanischen Kontext aber, wo durch den Einfluss der USA und die Nachbarschaft zum von der Kommunistischen Partei regierten Nordkorea der Glauben an einen starken Staat traditionell schwach ist, wäre schon dieser Schritt ein Paradigmenwechsel. Der Anteil der Sozialstaatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt beträgt in Südkorea nur gut zehn Prozent, weniger als in fast jedem anderen Industriestaat.

Mit der Einführung der Vorschläge von Lee Jae-myung würden die Staatsausgaben wohl um ungefähr ein Zehntel ansteigen. Mehrere Analysten haben das Vorhaben daher schon für kaum realisierbar erklärt. Lee selbst sieht das anders. »Die Zeit des schwachen Staates ist vorbei«, sagt er, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Pandemie. Selbst das für seine schnelle Infektionskontrolle lange Zeit bewunderte Südkorea leidet unter den Folgen. Vor allem prekär Beschäftigte, die schon vor der Pandemie rund ein Viertel der Arbeitsbevölkerung stellten, haben durch die Beschränkungen verloren.

In den Umfragen der vergangenen Wochen liegen Lee und Yoon nah beieinander. Vor dem Hintergrund der südkoreanischen Geschichte minimaler staatlicher Eingriffe ist schon dies beachtlich. Bei Umfragen, ob die Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen wollen, ist das Land gespalten. Zuletzt waren es vor allem ältere Personen, die die Idee attraktiv finden, während jüngere offenbar vor allem an die Kosten denken, die sie womöglich durch Steuererhöhungen tragen müssten. Denn dass die im Land einflussreichen Großkonzerne stärker zur Kasse gebeten würden, können sich viele Menschen kaum vorstellen. An diesem Versuch haben sich schon mehrere Präsidenten die Zähne ausgebissen.

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