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Ausgrenzung untergräbt Demokratie
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot zieht eine kritische Bilanz von zwei Jahren Pandemiebekämpfung - sie beklagt einen Mangel an linker Kritik an der Corona-Politik und plädiert für eine Teilhabe aller am öffentlichen Diskurs
Der Angriff auf die Ukraine hat das Thema Corona aus den Schlagzeilen verschwinden lassen. Inzidenzwerte, Hospitalisierungsraten und Todeszahlen werden in den Nachrichten kaum noch oder höchstens als Randnotiz gemeldet. Der »Krieg in Europa« überschattet alles, es gibt nun Wichtigeres als eine Infektionskrankheit. Und wenn der Einmarsch der russischen Armee drei Monate früher begonnen hätte, mitten in der kollektiven Hysterie um die nahende »Wand« der angeblich »viel gefährlicheren« Omikron-Variante? Ein interessantes Gedankenexperiment: Wäre die Pandemie auch dann unter ferner liefen abgehandelt worden? Hätte es die erbitterte Debatte um eine Impfpflicht, die Demonstrationen dagegen überhaupt gegeben? Wäre der dauerbesorgte Karl Lauterbach zum Gesundheitsminister befördert worden?
Das plötzlich abflauende Interesse der Medien - und auch großer Teile ihres Publikums - ist nicht nur problematisch, weil diese Woche mit Impflicht und Infektionsschutzgesetz wichtige Debatten und Entscheidungen anstehen, sondern auch weil es in Sachen Pandemiepolitik noch einiges aufzuarbeiten gibt. Das versucht jetzt die Autorin und Demokratie-Aktivistin Ulrike Guérot, zuletzt Professorin an der Donau-Universität Krems, die seit Herbst 2021 Europapolitik an der Universität Bonn lehrt. Ihr neues Buch trägt den wenig konkreten Titel »Wer schweigt, stimmt zu«, auch die Unterzeile »Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen« bleibt merkwürdig schwammig. Eine bewusste Strategie gegen vorschnelle Vereinnahmung oder Abgrenzungsreflexe? Jedenfalls taucht das ermüdende C-Wort weder auf dem Cover noch im Klappentext auf. Und das, obwohl es sich im Kern um eine kritische Bilanz von zwei Jahren politischer Seuchenbekämpfung handelt - und um eine Auseinandersetzung mit den irritierenden Positionen von Teilen des linken und liberalen Milieus.
Demokratie im Lockdown?
Am 12. März 2020 erklärte die WHO das neu entdeckte Coronavirus zur Pandemie. Damals sei es richtig gewesen, zunächst vorsichtig zu sein - angesichts einer unbekannten Gefahr, die man nicht wirklich habe einschätzen können, konzediert Guérot den politischen Entscheidungsträgern. »Aber ein Lockdown ist keine Vorsicht, sondern eine drakonische Maßnahme, die vor allem Angst schürt.« Die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ausgegebene Parole »Wir sind im Krieg gegen das Virus« schien ihr schon damals unangemessen und übertrieben. »Als man in Österreich eine Stunde legal joggen durfte, fand ich mich einmal am Donaukanal in Wien, weit und breit allein auf weiter Flur auf einer Parkbank, als vier bewaffnete Polizisten mich baten, den öffentlichen Raum zu räumen.« Guérot fand den Vorfall »so bizarr, dass ich ab da der Überzeugung war, dass ein Großteil der Gesellschaft kollektiv in eine Übersprungshandlung getreten ist«.
Die Mehrheit der Bevölkerung, so Guérot, »drängte unter Panik in einen Zug, der immer schneller an Fahrt aufnahm«. Wer nicht einstieg, habe das Zeitgeschehen von einer anderen Warte aus beobachtet und sei heute von einer Gesellschaft entfremdet, in der »die Fundamente von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ernsthaft gefährdet sind«. Guérot konstatiert eine »substanzielle« Verformung des öffentlichen Lebens sowie eine wachsende »Machtkonzentration der Exekutive«. Der Wert von Grundrechten müsse »dringend neu in unserem Bewusstsein verankert« werden. Man dürfe niemanden, auch die viel kritisierten Impfskeptiker nicht, von der Teilhabe am Diskurs ausgrenzen, denn damit beginne »die Erosion der Demokratie«. Entweder gelinge es, einen längst ideologisierten, auf »Widersprüchen und einem kolossalen Datensalat aufbauenden Corona-Diskurs zu entlarven und der Verstetigung der Maßnahmen ein Ende zu setzen, also ein demokratisches System wieder in eine Spur zu bringen«. Oder es werde »notwendigerweise autoritär«, weil ein Versagen kaschiert und »ein Lügengebäude stabilisiert werden muss«.
Politischer Koordinatenwechsel
Die Pandemiedebatte ging einher mit sprachlichen Umdeutungen. »Querdenken«, einst positiv konnotiert und für einen unabhängigen Geist stehend, entwickelte sich zum Schimpfwort für rechtslastiges Gedankengut. Die Linke, so Guérot, wurde unter dem Vorwand des Guten mit dem Begriff der Solidarität »gekapert« und so gefügig gemacht gegenüber einem paternalistischen Staat, »den sie sonst immer gerne der Übergriffigkeit bezichtigt«. Solidarität, der älteste linke Traum, »das Mutterkorn progressiver Rhetorik«, entwickelte sich in der Krise zur gemeinsamen Klammer einer ganz großen politischen Koalition. Alle Minderheiten, auch jene, die legitime Kritik äußerten, wurden als Verschwörungstheoretiker diffamiert und isoliert. Die Antifa, sonst stets militant widerständig gegen staatliche Zumutungen, mutierte zur Speerspitze dirigistischer Maßnahmen - statt gegen Verbote, Kontrolle und Überwachung zu opponieren. Die populistische Rechte nutzte die Leerstelle und beanspruchte (nicht zum ersten Mal) die kulturelle Hegemonie über den Freiheitsbegriff. Die wenigen Abweichler im bürgerlichen Lager um den FDP-Abgeordneten Wolfgang Kubicki wurden heftig attackiert, sie stehen gegen eine mental und emotional geschlossene Einheitsfront.
Ein ähnliches Bild zeigte sich in den Medien, die sich in diesen zwei Jahren mit einer Art Überbietungswettbewerb am Rockzipfel der regierungsamtlichen Politik bewegte: einseitige Berichterstattung, Talkshows mit der ständigen Besetzungsliste »Fünf Stühle, eine Meinung«, rein naturwissenschaftlich orientierter Tunnelblick, Bashing von Künstlern wie bei den Video-Clips der Initiative #allesdichtmachen; zudem das Versagen der meisten Comedians und Kabarettisten, denen außer billigen Aluhüten-Witzen wenig einfiel. »Es gab auf einmal Nachzensur bei öffentlich-rechtlichen Anstalten«, berichtet Guérot aus eigener Erfahrung: »Ich persönlich musste im August 2021 eine Rufmordkampagne über mich ergehen lassen, weil ich wie viele andere auf Ungereimtheiten in der offiziellen Corona-Berichterstattung hingewiesen habe.« Einige, die das ebenso taten, seien, »schlimm genug«, von Populisten vereinnahmt worden. Sie habe sich gewundert, warum »nur die politische Rechte die Maßnahmen als unverhältnismäßig kritisierte, während die politische Mitte sie begrüßte und immer mehr davon forderte«.
Riss in der Gesellschaft
In den digitalen Netzwerken entstand ein fragwürdiges Paralleluniversum, symbolisch für einen bis heute nicht gekitteten Riss in der Gesellschaft. Dieser traf auch enge persönliche Beziehungen: Kollegen- und Bekanntenkreise zerstritten sich, Freundschaften zerbrachen über sehr kontroversen Einschätzungen der Lage, manchmal begleitet von Gesprächskillern wie »Du klingst ja wie Pegida!« Gut versorgte Rentner oder Pensionäre urteilten moralinsauer über angeblich leichtfertige Jugendliche, interessierten sich weder für den wirtschaftlichen Ruin von Soloselbstständigen oder Gastwirten noch für die Überforderung von Eltern und Kindern durch zugesperrte Spielplätze, Kitas und Schulen. Zweifel am Regierungskurs fand sich nicht mehr in der »Zeit« oder im »Spiegel«, eher in den Kommentaren der »Welt« oder gar der »Bild«-Zeitung; manche Linke entwickelten gar Sympathien für den »Focus«-Kolumnisten und Sozialistenfresser Jan Fleischhauer. Ulrike Guérot kritisiert die Warnungen vor dem Beifall von der falschen Seite: »Ist man rechts, wenn man ein Argument mit einer politischen Gruppierung teilt, die man ansonsten als unmöglich erachtet? Natürlich nicht!«
Ausgrenzung musste die Autorin übrigens auch bei der Publikation ihrer aktuellen Streitschrift erfahren: Eigentlich sollte sie bei einem österreichischen Verlag erscheinen, der dann die Zusage aus Furcht vor einem möglichen Shitstorm zurückzog; so landete das Manuskript schließlich bei Westend in Frankfurt am Main. Ein eher ungewöhnlicher Vorgang, der die tief sitzenden Spaltungen durch die Pandemie auch im intellektuellen Milieu illustriert. Guérots bisweilen überspitzte Thesen sind eine Provokation, und ihr Schlusskapitel, der schwächste Teil des Buches, bietet in der Tat Anlass zur Distanzierung. Hier steigert sie sich hinein in die Dystopie eines alles umfassenden biotechnologischen Überwachungsstaates. Richtig, Corona ist für Tech-Giganten und Pharmaindustrie - und damit für die Milliardäre weltweit - nicht nur ein Riesengeschäft, sondern auch ein Testlauf, ein gigantisches Massenexperiment. Doch das gezeichnete Szenario vom »Körper als letzter Ware« im Visier interessierter Kreise wirkt überzogen. Immerhin versucht der Essay am Ende eine emanzipatorische Perspektive aufzuzeigen für eine künftig »postnationale, postkapitalistische und postpatriarchale Welt« - mit öffentlichen Räumen, »zu denen alle Zugang haben und niemand durch einen Barcode ausgesperrt wird«.
Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Westend-Verlag, 142 S., br., 16 €.
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