Deutsche Befindlichkeiten

Das Leipziger Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow spürte der »Staatsräson« und deren »Geschichte eines Missverständnisses« nach

  • Tobias Prüwer
  • Lesedauer: 7 Min.
Richard von Weizsäcker, damaliger Bundepräsident, legt am 8. Oktober 1985 einen Kranz am Grab des Staatsgründers von Israel, Ben Gurion, nieder.
Richard von Weizsäcker, damaliger Bundepräsident, legt am 8. Oktober 1985 einen Kranz am Grab des Staatsgründers von Israel, Ben Gurion, nieder.

»Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes«, sagte Angela Merkel 2008 vor dem israelischen Parlament, der Knesset. »Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.« Damals im Kontext der iranischen Drohung mit Atomraketen geäußert, war die deutsche Staatsräson in Bezug auf Israel in der Welt. Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erfuhr sie wieder eine Konjunktur und ist heute ein Schlagwort mit höchst ambivalenter Bedeutung: Der Begriff diente und dient verschiedenen Positionen und reicht von der Vergewisserung der Israel-Solidarität über die Kritik an der deutschen Nahost-Politik bis zum Schuldkult-Vorwurf, Staatsräson sei nur die Kompensation einer »German guilt«.

Der Begriff der Staatsräson ist enorm aufgeladen, aber niemand weiß, was er genau bedeutet. Um dem nachzuspüren, widmete sich die Jahreskonferenz des Leipziger Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow dem Begriff und der »Geschichte eines Missverständnisses«, wie es im Titel heißt. Neben einer internen Fachdiskussion beinhaltete das Programm der Tagung am 4. und 5. Dezember zwei öffentliche Abendveranstaltungen, die Hintergrundverschiebungen innerhalb globaler Weltbilder erörterten und den Begriff Staatsräson auf den »Prüfstand« stellten. Dass die Veranstaltung zu den deutsch-israelischen Verhältnissen in Leipzig stattfand – und zwar komplett störungsfrei – ist aktuell nicht selbstverständlich. In der Woche während der Tagung wurde ein Vortrag über Antisemitismus an der Universität Leipzig abgesagt, da antiisraelische Gruppen mit Protest und der Stürmung gedroht hatten.

Sich wandelnde Weltbilder

Zunächst sei Staatsräson ein Begriff, der in der Politikwissenschaft dem Rechtsstaat entgegenstehe: Er beinhalte eine übergeordnete Vernunft oder Handlungsanleitung, während sich demokratisch verfasste Gesellschaften – ans Recht gebunden – eine solche selbst geben würden. Staatsräson sei auf moderne Staatlichkeit nicht anwendbar. Darauf wies unter anderem der Politologe Claus Leggewie in seinem Eröffnungsvortrag »Das europäisch-israelische Verhältnis vor dem Hintergrund globaler Transformationen« hin, der wie eine inhaltliche Klammer der Gesamttagung wirkte. So entstünden in der Moderne unterschiedliche Weltdeutungen, was die Beschäftigung mit dem ohnehin komplizierten Nahost-Konflikt nicht einfacher mache.

Leggewie zufolge ist der Nahost-Konflikt kein einfacher Territorialkonflikt, den zum Beispiel eine Gebietsteilung vergleichsweise einfach lösen könnte. Denn er sei religiös und ideologisch aufgeladen; das betreffe nicht allein das Aufeinanderprallen israelischer und palästinensischer Interessen. Das mache den Konflikt tragisch, verstanden im Sinne antiker Tragödien: »Es ist wie bei Ödipus, was auch immer Israel tut, verstrickt es sich noch tiefer im Tragischen.« Das führe zum politischen Dilemma, in dem auch Deutschland und Europa als Mitspieler in dieser Tragödie verstrickt seien.

Der Politikwissenschaftler unterstreicht, wie sehr Israel und der Nahost-Konflikt innerhalb sich wandelnder Weltbilder – oder besser: Einer sich wandelnden Konstellation konkurrierender Weltbilder – zum Kristallisationspunkt wurden. Ursprünglich sei etwa die Sowjetunion Partner Israels gewesen, was sich erst in den 60er Jahren änderte. Das Land sei fortan als US-Zwilling und Speerspitze des westlichen Imperialismus wahrgenommen worden. Große Teile der Westlinken hätten dieses antiimperialistische Weltbild übernommen, das durch Befreiungsbewegungen wie in Kuba und Vietnam vermeintlich bestätigt wurde.

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Aus dieser Dynamik sei die Staatengruppe der Blockfreien entstanden, die sich außerhalb der Ost-West-Frontstellung des Kalten Krieges positionierte. Die abwertend zur »Dritten Welt« Deklarierten seien selbstbewusst geworden. »Es formte sich ein Bündnis, das explizit gegen die Hegemonie des Westens angetreten ist«, sagte Leggewie. Diese weltanschauliche Frontstellung führte, so Leggewie, zu eben jener tragischen Situation, in die sich unweigerlich verstrickt, wer sich positioniert. Daher seien auch die eigenen postkolonialen Ansprüche der Staaten oft nicht zu erfüllen. Leggewie führte dazu als Beispiel den Westsahara-Konflikt an, wo die postkolonialen Staaten plötzlich selbst wie Kolonialisten auftraten und auf den willkürlich gezogenen Grenzen der europäischen Besatzer bestanden. Dazu zitierte er die Warnung des Entkolonialisierungs-Vordenkers Frantz Fanon vor einem »Schmalspur-Faschismus« postkolonialer Regime.

Staatsräson auf dem Prüfstand

In der Solidarisierung westlicher Intellektueller mit dem »globalen Süden«, in der oft politische zu identitären Kategorien umgemünzt würden, liege eine weitere Überdeterminierung des Nahost-Konflikts. Israel werde zum globalen Norden gezählt, die Palästinenser-Gebiete zum Süden. Diese weltanschauliche Frontstellung muss man, so Leggewie, bei der Betrachtung des Nahost-Konflikts und des deutschen Verhältnisses zu Israel mitbedenken. Denn sie führe zu gefährlichen Projektionen, etwa jener, dass es im Gaza-Krieg um die Abschaffung von Kapitalismus und Patriarchat gehe, wie auf manchen propalästinensischen Demos derzeit zu hören sei.

Diese Erlösungs-Projektion streifte ebenso die prominent besetzte Podiumsdiskussion am zweiten Tagungstag, wenn auch nur am Rande. Auf dem Podium von »Staatsräson auf dem Prüfstand« ging es um die Gretchenfrage »Wie hältst du es mit der Staatsräson?«, die sich freilich nicht final beantworten ließ. Die Diskussion fiel daher insgesamt eher zustimmend aus, die Perspektiven der Teilnehmenden wirkten ergänzend. Journalist Eren Güvercin sprach vor allem als deutscher Muslim und skizzierte die Herausforderungen, die Erinnerungskultur an die Shoah Menschen aus Familien mit Migrationsgeschichte nahezubringen. Zum Beispiel könne man auf die Vertreibung von jüdischen Menschen aus muslimischen Ländern hinweisen: »Antisemitismus hat auch mit deiner Herkunft zu tun, ist nicht nur eine deutsche Sache.«

Der Journalist Christoph Schult brachte einen an der Außenpolitik geschulten Blick ein, während Ex-Diplomatin Susanne Wasum-Rainer aus der politischen Praxis berichtete. In dieser hätte der Begriff Staatsräson keine Rolle gespielt, wenn sie in Israel beispielsweise die Siedlerpolitik und Menschenrechtsverletzungen kritisierte. Die Außenpolitik hätte sich ab 2008 nach Merkels Rede nicht geändert, und juristische Bindung leite sich aus der Staatsräson sowieso nicht ab. In die gleiche Kerbe schlug Jurist und Journalist Ronen Steinke, den eine aktuelle Begriffs-Instrumentalisierung beunruhigte: Durch Schuldgefühle sähen sich Deutsche zum Schweigen über israelische Verbrechen verpflichtet, so laute ein häufig vorgebrachter Vorwurf durch propalästinensische Aktivisten. Das entspreche nicht der Realität, wie Steinke auch an historischen Beispielen zeigte. Der Vorwurf diene vielmehr der Stabilisierung des eigenen Weltbilds und der Selbstvergewisserung.

Kein jüdisches Problem

Dem Eindruck oder auch dem Vorwurf, Deutschland verhalte sich durch den Merkel’schen Imperativ der Staatsräson zurückhaltender gegenüber Israel, widersprachen die Diskutant*innen. Sie kritisierten allerdings manches formelhafte Sprechen deutscher Politiker und das diplomatische Zögern, etwa wenn es um die Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant gehe. Natürlich würden diese umgesetzt, erklärte Ronen Steinke, »Deutschland hat einen Vertrag unterschrieben«. Und die internationale Gerichtsbarkeit sei eine hart erkämpfte Errungenschaft. Außerdem, warf Podiumsteilnehmer Christoph Schult ein, bekräftigte die deutsche Politik angesichts des Haftbefehls gegen Wladimir Putin dessen sofortigen Vollzug, sollte der russische Präsident deutschen Boden betreten.

In der Diskussion war die Warnung zu vernehmen, dass die Staatsräson dazu instrumentalisiert werde, die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Alle auf dem Podium verurteilten jene Instrumentalisierung des Antisemitismus. Auch das Spiel, muslimischen Antisemitismus (»importiert«) gegen neonazistischen oder linken Antisemitismus auszuspielen, dürfe man nicht mitspielen – zumal er auch in der viel bemühten Mitte der Gesellschaft verbreitet sei. »Kampf gegen Antisemitismus ist kein jüdisches Problem, sondern notwendiger Teil der demokratischen Kultur«, hieß es dazu von Eren Güvercin.

Der aktivistische Palästina-Bezug vieler Deutscher sei eher ein Fetisch, wurde aus dem Publikum bei der abschließenden allgemeinen Diskussion eingeworfen. Claus Leggewies Hinweis auf verfestigte identitäre Weltbilder kehrte hier wieder. Aus diesen fetischisierten Frontstellungen entstünden seltsame Allianzen, wenn etwa K-Gruppen mit Islamisten demonstrierten. Insgesamt wurde in der Diskussion vor zunehmender Empathielosigkeit gewarnt, ebenso wie vor der Verengung von Diskursräumen, wie etwa durch die wegen einer Drohung abgesagte Veranstaltung an der Universität Leipzig.

Dass die Kufiya innerhalb des letzten Jahres zum politischen Mode-Statement avancierte, während Kippa tragen noch gefährlicher wurde, sei deutsche Gegenwart geworden – und bilde auch die innerdeutsche Debatte ab. Diese werde zudem oft rein selbstbezüglich geführt, so die Kritik auf dem Podium. Natürlich helfe der Diskurs hierzulande niemandem gegen Raketenbeschuss durch Hamas und Hisbollah, befreie keine Geiseln und beende auch nicht den israelischen Militäreinsatz und das Leiden und Sterben der Menschen in Gaza. Die in Deutschland Agierenden, Proklamierenden und Agitierenden wirken so wie der Chor in der Tragödie – um im Bild von Claus Leggewie zu bleiben –, der kommentiert, moralisiert, aber weder eingreifen kann noch will. Die in Israel lebende Moderatorin Gisela Dachs fand in diesem Punkt ein treffendes Schlusswort: »Wenn man etwas verändern will an der für beide Seiten dramatischen Situation dort, dann kann es nicht um die eigenen Befindlichkeiten in Deutschland gehen.«

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