Die Windmühlen des Kapitalismus

Volker Brauns neuestes Stück »Luf-Passion« wurde an der Akademie der Künste in Berlin vorgestellt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Prinzen hatten mit »Alles nur geklaut« ihren größten Hit - aus guten, wenn auch bösen Gründen. Sie rannten mit dem Lied offene Türen ein, denn an dem, was da gesagt wurde, zweifelte niemand: »Das ist alles nur geklaut und gestohlen, nur gezogen und geraubt. / Wer hat dir das erlaubt?« Letztere Frage scheint rein rhetorisch, denn um Erlaubnis fragt in der Geschichte niemand.

Sie ist eine Abfolge blutiger Verteilungskämpfe, und Marx prägte das Bild dazu, dass der Fortschritt einem heidnischen Götzen gleiche, der seinen Nektar aus den Schädeln Erschlagener trinke. In der »Dialektik der Aufklärung« fragten Horkheimer und Adorno - vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, in dem Hightech-Perversionen schlimmsten Ausmaßes machbar wurden -, ob der Fortschritt sich nicht am Ende selbst widerlege.

Inzwischen werden die Stimmen derer lauter, die fragen, ob nicht der eigentliche kulturelle Reichtum in den Anfängen menschlicher Entwicklung lag und die spätere Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse, mitsamt Wissenschaft und Technik, zum Niedergang führte. Zuletzt haben David Graeber und David Wengrow diese These in dem Buch »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit« dargelegt, die sehr zu ihren anarchistischen Positionen passt.

Alles nur geklaut? Ja, natürlich, Rom raubte auf dem Höhepunkt seiner Macht, was die besetzten Provinzen nur hergaben; und wer heute in Venedig auf dem Markusplatz steht, der hat das Interieur von Konstantinopel um sich, samt der venezianischen Löwen - Beutegut seit fast 1000 Jahren! Napoleon war keineswegs besser, von den NS-Besatzern halb Europas ganz zu schweigen. Kunstschätze sind Trophären, die von eigener siegreicher Machtfülle zeugen! Wer herrscht, der drückt Preise - in der ehemaligen DDR kennt man das von der sogenannten Treuhand, die die Wirtschaftseliten im Westen mit heute unbezahlbaren Kleinodien aus dem Anschluss-Fundus beschenkte.

Insofern ist das, was Volker Braun in »Luf-Passion« schreibt, eine Variation auf jenes Thema, das ihn bereits in »Die hellen Haufen« über die interessengeleitete Zerstörung des Kali-Bergbaus in Bischofferode beschäftigte. 1992 demonstrierten dort Bergarbeiter vergeblich mit dem Slogan »Kein Kolonialgebiet«. Das gleiche Prinzip findet er nun in der Südsee am Ende des 19. Jahrhunderts. Verfasst hat Braun diesen Text über eine bis in unsere Gegenwart gespensternde Beute als Kommentar zur Eröffnung des Berliner Humboldt-Forums, in dem das Luf-Boot präsentiert wird.

Nun also eine szenische Lesung in der Akademie der Künste, eingerichtet von Manfred Karge. Dieser hatte zuletzt am Berliner Ensemble mit zahlreichen szenischen Einrichtungen bekannter und unbekannter DDR-Dramatik ein Forum gegeben. Brauns Text jedoch nimmt den sehr gegenwärtigen bundesrepublikanischen Streit auf, der anhand des Luf-Bootes geführt wird. Im vergangenen Jahr hatte Götz Aly sein Buch »Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten« herausgebracht, das kontrovers debattiert wird.

Ist dieses Boot als koloniale Erbmasse, geraubt in ehemals Deutsch-Neuguinea, ein bloßes »Schandmal«? Aly beantwortet seine Frage selbst - auf doppelte Weise: Einerseits ganz fraglos ja, andererseits müsse es »zwingend zum Weltkulturerbe gezählt werden«. Und so leitet er aus diesem Widerspruch sehr richtig ab: »Die aus diesem Gegensatz herrührenden Spannungen müssen sichtbar gemacht werden.« Er selbst jedoch setzt auf Polemik, eine volltönende Anklage des Kolonialismus, zweifellos moralisch legitimiert. Was aber weitgehend fehlt, sind neue aufschließende Einsichten in die »Luf-Boot«-Geschichte, überraschende Wendungen und Details.

Denn das Interessante an dieser Geschichte ist die heterogene Mischung des Personals, die einst Arthur Rimbaud in eigener Person vereinte: erst Dichter und dann skrupelloser Händler im Kolonialgeschäft. Hier wimmelt es nur so von Räubern und Psychopathen, Militärs und Missionaren, Betrügern und Beamten, aber auch von Idealisten und Forschern. Das in sich widersprüchliche Gesamtbild gilt es zu bedenken.

Der Stein des Debattenanstoßes, das Luf-Boot, ist ein hochseetüchtiges Auslegerboot, 15 Meter lang, es trägt etwa 50 Personen, wurde gebaut von den Hermit-Insulanern in der Südsee. Dies ist das letzte Boot, das sie bauten, denn das Volk starb aus - auch infolge einer unablässigen Reihe von blutigen Strafaktionen der deutschen Kolonialmacht gegen die sich in Partisanenmanier ebenso blutig wehrenden Insulaner.

Geblieben als Zeugnis ihrer hohen Kunstfertigkeit ist dieses von ihnen nie benutzte mit reichen Verzierungen geschmückte Boot. Ob gekauft oder gestohlen, das bleibt offen. Jedenfalls kam es 1904 nach Berlin und wurde von Max Thiel von der deutschen Handelsgesellschaft für 6000 Mark ans Völkerkundemuseum verkauft. Das Boot verkörpert eine komplexe Geschichte von Unterwerfung und Widerstand dagegen - letztlich das Aussterben eines Volkes, von dem nur ein Boot blieb, dessen Schönheit fasziniert.

Braun erzählt diese Geschichte in Vers-Collagen sehr bewusst als Passion. Ein Zeugnis des Schmerzes, des begangenen Unrechts, das nicht endet, solange Kapitalisierung, Globalisierung und Kolonialisierung einen und denselben Prozess beschreiben.

Doch immer gibt es Einzelne, die jenseits dieser Sphäre die Poesie des Lebens der anderen erforschten, so etwa der Ethnograf Claude Lévi-Strauss mit »Traurige Tropen« von 1955, der in Freudschaft mit jenen Stämmen in Brasilien, die er besuchte, uns Europäern deren Kultur nahebrachte. Ein Übersetzer im besten Sinne, dessen wunderbares Buch ganz uneitel anhebt: »Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.«

Auch Braun nimmt das Luf-Boot als jenes Gefährt, auf dem Nietzsche die Philosophen in die Welt schicken wollte. Er greift weit aus in die nachfolgende Geschichte: »Ich sah einen stolzen toten demütigen Häuptling, sein Name Lumumba, ermordet, als er das Schiff bestieg, zerstückelt, verbrannt im Kongo, welcher gesegnet ist mit Bodenschätzen und dem Interesse der Banken.«

Was also bleibt von denen, die auszogen, um mit den Windmühlenflügeln des globalen Kapitalismus zu kämpfen? »Das Scheitern, der Verrat; welchen Sinn, als die Treue zur ersten rohen Idee? Der Freiheit, die uns Junge zum Handeln treibt. Die Kunst, die Geduld, dem Scheitern voraus zu sein!« Diesen Gedanken teilt Braun mit Pier Paolo Pasolini.

Leider ist die szenische Lesung der »Luf-Passion« (nachzulesen in Heft 1/22 von »Sinn und Form«) von Claudia Burckhardt, Hans-Jörg Frey, Jörg Thieme, Felix Tittel dann nicht von nachdenklicher Distanz geprägt, sondern von einer Pathetik, die mit ihrem deklamatorischen Gestus den Braun’schen Text geradezu ins Hohltönende verwandelt. Wie gut, dass es da den Satyr vom Dienst gibt, den hinreißenden Percussionisten Günter »Baby« Sommer, der mit den unwahrscheinlichsten Gegenständen die erstaunlichsten Klänge produziert und so ein spielerisches Gegengewicht zur bloßen Verkündigung schafft.

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