Den Libanesen könnte bald das Brot ausgehen

Wegen des Ukraine-Kriegs steigen die Weltmarktpreise für Weizen, der libanesische Staat aber ist praktisch pleite

  • Lennart Lehmann, Beirut
  • Lesedauer: 4 Min.

Finanz- und Wirtschaftskrise, Pandemie, Explosionen: Seit Oktober 2019 rollt eine Krisenwelle nach der anderen über den Libanon. »Die Ukraine-Krise ist ein zusätzliches Desaster«, analysiert die englischsprachige Tageszeitung »The National« aus Abu Dhabi.
Die infolge des Ukraine-Kriegs verschärfte Verteuerung von Energie und Nahrungsmitteln treffen die Bevölkerung und Hunderttausende syrische Flüchtlinge in dem importabhängigen Staat am östlichen Mittelmeer in einem ungünstigen Moment.

Die Kaufkraft hat sich dort inflationsbedingt in nur zwei Jahren um sagenhafte 90 Prozent reduziert. Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze von acht US-Dollar am Tag leben, hat sich verdreifacht: Drei von vier Libanesen sowie 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge sind betroffen. Der Staat ist pleite und gezwungen, die bisherige Subventionspolitik für Grundnahrungsmittel aufzugeben, während die Preise schwindelerregende Höhen erreicht haben.

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Die libanesische Zentralbank plagen Liquiditätsprobleme. Libanesen dürfen seit Monaten nur limitierte Mengen Bargeld abheben. Scheine und Münzen sind aber gefragt wie nie, da das Kreditkartenwesen nicht mehr funktioniert. Seit der vergangenen Woche akzeptieren Tankstellen nur noch Bargeld, auch Supermärkte bestehen mehr und mehr auf Bargeldzahlungen. Die Preise für Benzin und Gas sind heute mehr als 20-mal so hoch wie 2019. Dadurch steigen die Strompreise. Kraftstoff wird rationiert. Nur mit Mühe kann der Betrieb wichtiger Infrastruktur wie Kühlketten aufrecht erhalten werden.

Hilfsorganisationen warnen derzeit vor einer Hungerkrise im Libanon. Vor über 100 Jahren, während des Ersten Weltkriegs, verhungerte die Hälfte der Bevölkerung des libanesischen Kernlandes. Auslöser damals: eine Wirtschaftskrise, Importabhängigkeit, mangelnde Vorsorge, gefolgt von einer Blockade durch die alliierten Kriegsmächte, Missmanagement, Vereinnahmung von Ressourcen durch das osmanische Militär, Korruption, Profitgier der Großhändler und Desinteresse an der hungernden Bevölkerung bei allen Kriegsparteien. »Die Bevölkerung verarmte, während die Lebenshaltungskosten stark anstiegen«, analysierte Aaron Tylor Brand von der American University Beirut. »Es war nicht so, dass es nichts zu essen gab. Aber es war zu teuer, um es zu kaufen. Und so verhungerten die Leute langsam.«

Einiges an der Ausgangslage trifft auch heute zu. Beispiel Krisenvorsorge: Brot wird im Libanon subventioniert. Gerade einkommensschwache Familien nutzen Brot als Grundnahrungsmittel. Der Libanon importiert laut Medienberichten pro Monat 50 000 Tonnen Getreide – zwei Drittel davon aus der Ukraine. Diese Lieferungen drohen jetzt auszufallen. Die Preise auf dem Weltmarkt haben sich seit Ende 2021 mehr als verdoppelt, von 217 Dollar pro Tonne auf 468 Dollar. Die von Liquiditätsproblemen gebeutelte Zentralbank ist nun nicht mehr in der Lage, den Preis im Land über Zuschüsse zu deckeln.

»Hinsichtlich der Ernährungssicherheit hat sich der Libanon 30 Jahre lang verantwortungslos verhalten«, urteilt das landwirtschaftliche Forschungsinstitut CREAL. Die Politik setzte auf Finanzmärkte und die freie, globale Marktwirtschaft. »Sie haben mit Geld gehandelt, das sie nicht hatten. Nun merken sie, wie schrecklich es ist, keine Strategie für Ernährungssicherheit zu haben«, kritisiert CREAL. Presseberichten zufolge wendete sich Beirut bereits mit Hilfeersuchen an die USA und an die Golfstaaten.

Ein weiteres Problem ist die Lagerung. Die Getreidespeicher im Hafen von Beirut hatten ein Fassungsvermögen von 120 000 Tonnen, was der Menge entspricht, die die Versorgung mit Brot für zweieinhalb Monate sichert. Die Explosion im August 2020 zerstörte diese Speicher, Ersatz wurde nicht geschaffen. Die verbliebenen Speicher im Land halten Weizenvorräte für gerade einmal vier Wochen. Wenn die Importe aus Osteuropa wegfallen, muss Libanon in Übersee oder Indien kaufen. Das verteuert das Getreide, und die Lieferzeit verlängert sich um das Drei- bis Vierfache. Bis das Getreide ankommt, könnten die Vorräte aufgebraucht sein.

Die Konsequenzen zeigten sich bereits spürbar in der letzten Woche in Form von dramatischen Preissteigerungen in den Supermärkten. Das Ministerium für Industrie verkündete einen Exportstopp für bestimmte Lebensmittel, um die kurzfristige Versorgung durch profitorientierte Händler nicht zu gefährden. Nach der jüngsten Benzinpreiserhöhung kam es zu Hamsterkäufen.

In den Medien wird derzeit das Für und Wider einer Verschiebung der Parlamentswahlen im Mai diskutiert, da diese das Krisenmanagement beeinträchtigen könnten. Alle Szenarien für den Libanon sehen recht unerfreulich aus. Allerdings gibt es auch Unterschiede zu der Situation von vor 100 Jahren: Die Weltgemeinschaft kann viel schneller informieren und reagieren – wenn sie denn will: Im Jemen und in anderen Ländern ist Hunger weiterhin tödliche Realität. Das beobachtet man auch in Beirut.

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