- Politik
- Ukraine-Krieg
»Ich fühle mich um fast 80 Jahre zurückversetzt«
Der Weg zu Frieden und friedlicher Koexistenz zwischen Russland und der Ukraine hat seinen Preis. Aber die Aufwendungen lohnen sich
Ich war keine 17, als ich Brände in Stettin löschen und in meinem Pommerndorf Tote begraben musste. Der Krieg griff hart in mein Leben ein und trieb mich bis zur Insel Rügen, wo ich gefangen genommen wurde. Zwangsweise Hitlers letztem Aufgebot zugeordnet, behandelte mich der Feind nachsichtig. Er hielt es aber trotzdem für nötig, mich vier Jahre etwas von der Schuld abtragen zu lassen, welche das deutsche Volk auf sich geladen hatte. Sechs Jahre Völkermord und Barbarei unterm Hakenkreuz, ob nun willentlich oder unwissend mitgemacht, egal. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen …
Nein, wir wurden nicht gehenkt. Man gab uns stattdessen Gelegenheit nachzudenken und umzudenken. An Antifa-Schulen, in Begegnungen mit erfahrenen, gebildeten Menschen, die schon den Ersten Weltkrieg, Interventions- und Bürgerkriege erlebt hatten, die in Spanien die Republik gegen die vereinten Faschisten Europas verteidigt oder im Exil ihren Teil zur Anti-Hitler-Koalition beigetragen hatten. Es war eine kluge, sehr weise Entscheidung, uns deutsche Kriegsgefangene auf die Schulbank zu setzen.
Ich gehöre vermutlich zu den letzten Zeugen, die jenen Krieg erlebt und durchlitten haben. Und ich rechne zu jener Generation, die auch die Großmut einer Siegermacht erfuhr. Denn es war großherzig, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern Mitläufern wie Mittätern Gelegenheit zu geben, aus Fehlern zu lernen, um sie nicht zu wiederholen.
Die aktuellen Bilder aus der Ukraine bringen meine schrecklichen Jugenderinnerungen zurück. Sie diktieren meine Gefühle. Ich sehe die zerstörten Wohnhäuser, sehe ausgebrannte Fahrzeuge auf den Straßen und Menschen, die verzweifelt vor Bomben und Raketen fliehen. Ich fühle mich um fast 80 Jahre zurückversetzt und werde nachdenklich. Europa hatte sich doch geschworen: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Die Narben sind geblieben - ich spüre sie mit meinen 94 Jahren stärker denn je.
Natürlich müssen wir den wohn- und heimatlos Gewordenen aus der Ukraine helfen. Mein Bruder, der einst Seemann war, sagte mir mal: Wenn wir einen Schiffbrüchigen an Bord holen, dann fragen wir nicht nach Nationalität und Hautfarbe - wir retten ihn einfach. Denn es ist ein Mensch.
Allerdings darf dieser Konflikt in der Ukraine nicht ausschließlich aus der emotionalen Perspektive betrachtet werden. Tränen verschleiern den Blick, sie schärfen ihn nicht. Wir müssen auch Geschichte und Gegenwart, nationale wie internationale Umstände berücksichtigen, unvoreingenommen und wahrhaftig die Fakten prüfen. Nicht um zu relativieren, sondern um objektiv zu urteilen und gerecht zu handeln. Wer von einer notwendigen Zeitenwende oder von einem Kurswechsel um 180 Grad redet, glaubt auch an »ewige Wahrheiten«, die man lediglich über Bord wirft, um sie durch neue Gewissheiten zu ersetzen. Marx hingegen wollte nicht nur an den Beginn wissenschaftlicher Arbeit den Zweifel gesetzt wissen. An allem ist zu zweifeln, sagte er. An allem! Das heißt allerdings nicht, auch seinen Überzeugungen zu misstrauen - sofern man denn welche im Laufe seines Lebens gewonnen hat.
Der Kalte Krieg teilte meine Familie. Sie lebte in der Westzone, als ich 1949 nach Deutschland zurückkehrte. Dass es schon bald zwei deutsche Staaten geben würde, war nicht Wunsch und Wille der östlichen Siegermacht: Sie wollte immer ein ganzes Deutschland, aber ein neutrales. Damit es nicht noch einmal einen Krieg vom Zaun brechen könnte. (Dahin wollte ich 1990 mit »Deutschland, einig Vaterland« kommen: neutral wie Österreich seit 1955.)
Im Westen sah man das damals anders. Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb, hieß es dort. Und bewaffnet! Deutlicher konnte man nicht die wahren Absichten artikulieren, die mein späterer Freund Egon Bahr in eine Feststellung kleidete, die er Gymnasiasten ins Gewissen zu schreiben hoffte: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie und Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.«
Die USA verfolgten nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa klar definierte Interessen. Zu deren Durchsetzung gründeten sie den Nordatlantikpakt. Der erste Nato-Generalsekretär, Lord Ismay, formulierte dessen Aufgabe unmissverständlich: »Keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down« - die Russen sollten aus Europa zurückgedrängt, die Amerikaner sich dauerhaft auf dem Kontinent behaupten und die Deutschen niedergehalten werden.
Wie wir sehen: Die Strategie ist vollständig und erfolgreich umgesetzt worden. Die Russen zogen 1994 ab, die Amerikaner sind noch immer da, und die Deutschen inklusive EU sind abhängiger von den USA denn je. Teures Fracking-Gas statt preiswertem Russengas ist in dieser Rechnung nur ein vergleichsweise kleiner Posten, nur ein Glied in der Kette, an der die EU nun fester als zuvor hängt.
Am Beginn des Konflikts um die Ostukraine gab es Vergleiche mit der Kuba-Krise vom Oktober 1962. Damals befand sich die Welt am Rande eines Nuklearkrieges. Die Sowjetunion hatte nach der in der Schweinebucht abgewehrten Invasion auf Bitte Havannas Raketen auf Kuba stationiert. Zur Abschreckung oder um bei einem neuerlichen Überfall reagieren zu können. Die USA blockierten daraufhin die Insel und stationierten Raketen in der Türkei. Beide Großmächte steckten somit in einer Sackgasse.
An der Spitze der US-Administration stand damals John F. Kennedy, und hinter ihm sein noch klügerer Bruder Robert. Sie begriffen, dass Kuba ein legitimes Sicherheitsinteresse hatte, was Moskau mit Nachdruck und mit Raketen unterstrich. Der US-Präsident telegrafierte am 27. Oktober 1962 an Chruschtschow, dass er verstanden habe. Wenn die Sowjetunion ihre Raketen abzöge, würde er »Garantien gegen eine Invasion Kubas geben. Ich bin zuversichtlich, dass andere Länder der westlichen Hemisphäre bereit wären, das Gleiche zu tun.« Und so geschah es. Beide Seiten zogen sich zurück, sprangen über ihren Schatten, bewiesen Vernunft und wahrten das Gesicht.
Nichts anderes hat Russland seit Jahren für sich selbst gefordert: Sicherheitsgarantien. Allerdings gab es im Westen keinen Politiker vom Format der Kennedys, der diese legitime Forderung Moskaus respektiert und den Mut zu einem solche Versprechen aufgebracht hätte. Vielleicht fürchtete man, das gleiche Schicksal wie diese beiden zu erleiden? JFK wurde im Jahr darauf ermordet, Robert Kennedy 1968 erschossen, als er sich anschickte, US-Präsident zu werden ...
Es gibt zweifellos eine Parallele zwischen diesen beiden Konflikten: Es ist deren globale Dimension, die Gefahr einer Eskalation bis zum Nuklearkrieg. Eine Deeskalation ist die einzige vernünftige Alternative. Und diese kann nur am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen werden. Das aber setzt Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten voraus. Und diese verlangt zwingend, dass jede Partei Zugeständnisse machen muss, die schmerzen. Der Weg zurück zum Frieden und zu friedlicher Koexistenz der beteiligten Staaten hat seinen Preis. Aber die Aufwendungen lohnen sich, sie liegen weit unter denen eines nicht beherrschbaren Vernichtungskrieges.
Chinas Präsident Xi Jinping hat sich als Vermittler angeboten. Er signalisiert damit, dass für die Volksrepublik Frieden über allem steht, auch über geostrategischen Interessen. Denn was könnte den Chinesen Besseres passieren, als etwa an den gigantischen Rohstoffressourcen Sibiriens zu partizipieren, wenn der Westen Russland vollständig boykottierte? Was für ein gewaltiges Hinterland gewönne Peking, wenn die vereinigten Flotten des Westens durchs Südchinesische Meer pflügten, um die freie Schifffahrt und Taiwan zu schützen?
Das allerdings ist nicht Pekings Kalkül. China denkt nicht in Jahren, sondern in Jahrtausenden. Und setzt auf »Tianxia«, der Vorstellung einer friedlichen Weltordnung. Diese Idee, die so viel wie »Alles unter einem Himmel« bedeutet, entstand im Jahrtausend vor Beginn der Zeitrechnung: Sie setzt auf Freiwilligkeit und nicht auf Unterwerfung, nicht auf Individuen, sondern auf die Gemeinschaft, jede Veränderung muss allen zugute kommen, niemand darf verlieren. Die Politik, dem Dao des Himmels, der Idee von Frieden, Ausgleich und Gerechtigkeit zu folgen, heißt Harmonie statt Hegemonie. Heißt beispielsweise Neue Seidenstraße statt nationaler Machtpolitik im Stile des 19. Jahrhunderts ...
Die Partei Die Linke, deren Ältestenrat ich leite, wird in wenigen Wochen in Erfurt einen Parteitag abhalten. Dieser hat viele Fragen zu beantworten, aber im Zentrum kann nur eine Aufgabe stehen: Wie erreichen wir, dass Frieden wird und Frieden bleibt? Dabei sollten alle Überlegungen diskutiert werden - bis auf jene, die bereits von der Geschichte hinlänglich beantwortet wurden. Nämlich dass erstens mehr Waffen nicht mehr Sicherheit bedeuten, und dass zweitens Kriege Konflikte nicht lösen, sondern verstärken und neue hervorrufen. Politische, also diplomatische Lösungen sind in jedem Fall die einzigen Optionen, die wir als Friedenspartei unterstützen sollten. »Die Waffen nieder!« kann dabei nur der erste Schritt sein; der zweite muss sein, sie zu vernichten.
Abrüstung heißt das Gebot der Stunde, nicht Aufrüstung. Aufrüstung weder mit Worten noch mit Kriegsgerät. Die meisten Menschen wollen nichts anderes als zufrieden, also in Frieden leben, arbeiten, eine Familie gründen und Kinder aufwachsen sehen, glücklich sein. Mehr nicht. »Das ist der einfache Frieden, den schätze nicht gering«, heißt es in dem berührenden Lied von Gisela Steineckert.
Ich entsinne mich an Davos Anfang 1990, an das Weltwirtschaftsforum in den Schweizer Bergen. Es fand seit 1971 statt, ich nahm als Ministerpräsident zum ersten und einzigen Mal daran teil, nach Jahresfrist gab es die DDR nicht mehr. Ohne Protokoll kam man zusammen und konnte sich zwanglos austauschen. Ein dpa-Fotograf überraschte Bundeskanzler Kohl und mich, als wir am Samstag, dem 3. Februar, entspannt miteinander sprachen. Kohl, zwei Jahre jünger als ich, hatte ähnliche Erinnerungen an den Krieg: Er war in der HJ zum Flakhelfer ausgebildet worden und hatte seinen Bruder Ende 1944 bei einem Tieffliegerangriff im Ruhgebiet verloren. Für ihn war unumstößlich - und darin war er sich mit Honecker einig, denn das hatten sie gemeinsam 1985 bei einem Treffen in Moskau erklärt -, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern nur Frieden ausgehen dürfe. Kohl stand zu dieser Aussage auch im Gespräch mit mir. Bei allen politischen Differenzen, die uns trennten, stimmten wir als vom Krieg gebrannte Kinder völlig überein: niemals wieder! Wie würde Kohl heute denken und entscheiden?
Die »Washington Post« berichtete am Montag darauf über das Forum mit über 800 Politikern und Wirtschaftskapitänen aus aller Welt und zitierte den polnischen Präsidenten Wojciech Jaruzelski. Dieser unterstützte »den Vorschlag für ein neutrales vereinigtes Deutschland, den der ostdeutsche Ministerpräsident Hans Modrow letzte Woche unterbreitet hatte«. Und Jaruzelski, so die US-Zeitung am 5. Februar 1990 weiter, habe einen Abzug sowjetischer Truppen aus seinem Land ausgeschlossen, »solange es keine Gesamtlösung für die Ost-West-Teilung Europas gibt«. Die Russen würden erst dann aus Polen abziehen, wenn »das bestehende Gleichgewicht der Kräfte in Mitteleuropa nicht beeinträchtigt werde«.
Mich zitierte die Zeitung mit dem Satz, Modrow habe angedeutet, »dass der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl ihm Hoffnung gemacht habe, dass sein Neutralitätsvorschlag Teil eines Dialogs über die Wiedervereinigung werden könnte«. General Jaruzelski sagte in Davos aber auch: »Militär kann in Länder nur einmarschieren - seinen Rückzug allerdings muss die Politik organisieren.«
Diese Feststellung, so meine ich, besitzt unverändert Gültigkeit. Alles andere ist nur noch für die Geschichtsbücher.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.