Wenn zwei das Gleiche tun ...

Erhard Crome fordert eine Rückbesinnung auf die friedliche Koexistenz

  • Wolfgang Schwarz
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Überfall der Nato auf Serbien 1999 und die Invasion der USA samt ihrer »Koalition der Willigen« 2003 waren nach geltender internationaler Rechtsordnung völkerrechtswidrige Angriffskriege, die den Tatbestand »Verbrechen der Aggression« erfüllten. Das gilt - trotz teils bizarrer Moskauer Rechtfertigungsversuche (»Entnazifizierung«) - auch für den russischen Einmarsch in die Ukraine.

Logischerweise gab es allerdings 1999 und 2003 keinen vom Westen orchestrierten internationalen Widerstand sowie keinerlei wirtschaftliche und andere Sanktionen gegen die Aggressoren. Und einen massiven Rüstungsschub, wie ihn Bundeskanzler Olaf Scholz hierzulande gerade mehr oder weniger im Alleingang angestoßen hat, schon gar nicht.

Doch wenn zwei das Gleiche tun (1999, 2003, 2022), dann ist es bekanntlich noch längst nicht dasselbe. Im Selbstverständnis des Westens bleiben, egal was er auch anrichtet, die eigenen, Standard setzenden Werte und die eigene moralische Überlegenheit davon grundsätzlich unberührt. Umso selbstverständlicher wurde jetzt – ausgelöst durch Moskaus Fehlentscheidung zum Krieg – eine umfassende, zunächst im Wesentlichen wirtschaftliche Eskalation des »System«-Konfliktes mit Moskau in Gang gesetzt, von der momentan niemand weiß, ob sie beherrschbar bleiben oder wo sie enden wird.

In dieser Situation umso nützlicher ist ein Griff zu Erhard Cromes Schrift »Die ungeliebte Alternative. Rückbesinnung auf friedliche Koexistenz für eine zeitgemäße internationale Politik«. Denn der Autor ruft eine »Grunderkenntnis aus der Spätphase des Kalten Krieges« in Erinnerung, von der man nur wünschen kann, dass sie auch den verantwortlichen Akteuren in der aktuellen Ost-West- Krise handlungsleitend ins Hirn gebrannt ist: »Die Clausewitz‘sche Formel, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, gilt nicht mehr; es gibt keine Politik, die durch einen alles vernichtenden Nuklearkrieg zu realisieren wäre. Das heißt: Ein Atomkrieg ist weder führbar noch gewinnbar.« Woraus folgt, dass, welchen Grad die Feindschaft der sich gegebenenfalls antagonistisch gegenüberstehenden atomaren Antipoden auch immer annimmt, friedliche Koexistenz, also die Austragung der Gegensätze unter Verzicht auf Gewaltanwendung und solche Mittel, die Gewaltanwendung zur Folge haben könnten, ein existentielles Gebot ist. Und unter den Bedingungen des Vorhandenseins nuklearer Massenvernichtungsmittel grundsätzlich bleiben wird. Diese Zusammenhänge scheinen im Ukraine-Krieg derzeit auf westlicher Seite, wo man Kiewer Forderungen nach einer Flugverbotszone über der Ukraine wegen der Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes mit Russland ablehnt, präsenter zu sein als in Moskau, wo Präsident Putin die Nuklearstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat.

Andererseits betont Crome völlig zu Recht, dass es »dauerhaften Frieden und friedliche Koexistenz« nur auf Basis gegenseitigen Vertrauens gäbe. Dazu sei »der Verzicht darauf, dass die eine Seite die politische Ordnung der anderen verändern oder gar bestimmen will, Mindestvoraussetzung«. Doch damit hapert es auf Seiten des Westens seit langem, auch wenn das nicht immer so gerade heraus deutlich wird, wie in folgender Offenbarung von Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, vom 11. Februar 2021: »Die Ziele, die wir gegenüber Russland haben, sind ja sehr große. Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel in Russland [...].« Demgegenüber konnte sich bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges bei westlichen Verantwortungsträgern eine Position nicht durchsetzen, wie sie Walter Schilling, früherer Bundeswehroberst, Militärattaché in Moskau und Studiendirektor an der Bundessicherheitsakademie, formuliert hat: »Mit Blick auf die Gefahren und die Kosten der westlichen Politik des ‚Regime Change‘ wäre es angebracht, nach sinnvollen Alternativen für die Beziehungen mit Moskau zu suchen. Es kann nicht im Interesse der westlichen Länder liegen, einen lang andauernden Konflikt mit Russland über die Ukraine, Belarus oder die Gegner in Russland zu führen. Es ist höchste Zeit, der Diplomatie eine neue Chance zu geben, die gewachsenen Realitäten anzuerkennen und einen ‚modus vivendi‘ in den wichtigsten Streitfragen anzustreben.«

Insgesamt präsentiert Erhard Crome, ein langjähriger, ausgewiesener Kenner der internationalen Politik, einen umfassenden Überblick über die Weltlage und ihre Hauptkonflikte (samt längerfristiger ursächlicher Linien) sowie über mögliche Entwicklungsperspektiven.

Erhard Crome: Die ungeliebte Alternative. Rückbesinnung auf friedliche Koexistenz für eine zeitgemäße internationale Politik. VSA-Verlag, 166 S., br., 14,80 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.