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Migrant, Gefangener, Politiker
Amarjeet Sohi über seinen Weg vom politischen Theater zum Bürgermeister im kanadischen Edmonton
Amarjeet Sohi ist Bürgermeister der kanadischen Großstadt Edmonton. Der 58-Jährige stammt aus Indien, war in seiner Jugend politischer Theatermacher und schrieb unter anderem ein Stück über ein Schiff voller Migranten aus Indien, das von Kanada aus zurückgeschickt wurde. Ich bin in Edmonton wegen einer Gruppe afghanischer Theater- und Menschenrechtsaktivisten, die nach monatelanger Flucht in Sohis Stadt Zuflucht gefunden haben. Diese Koinzidenz führt zu einem schnell vereinbarten Videointerview. Sohi befindet sich wie die meisten städtischen Angestellten Edmontons wegen der Pandemie im Homeoffice. In der Ankunft der Gruppe aus Afghanistan sieht er ein wenig auch das eigene Leben gespiegelt.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Amarjeet Sohi, danke für die Gelegenheit zu diesem Gespräch und auch für Ihre Neugier auf die Aktivistinnen und Aktivisten aus Afghanistan.
Es ist großartig, dass diese Menschen jetzt hergekommen sind. Ich möchte sie gern auch persönlich kennenlernen und freue mich darauf, wenn dies nach dem Ende von Covid endlich möglich sein wird.
Wie war Ihr eigener Weg zum politischen Theater?
Als ich nach Kanada kam, habe ich mich als Migrant ziemlich allein gefühlt. Deshalb begann ich kurz darauf mit einer Theatergruppe. Dabei sprachen wir vor allem über die Probleme, vor die migrantische Gruppen gestellt sind, all die Diskriminierungen, denen wir ausgesetzt sind. Meine Anfänge waren ganz einfach. Ich half zunächst bei einer Produktion. Dann fragten sie mich, ob ich mitspielen möchte. Und ich dachte mir, warum eigentlich nicht? Es war nur eine kleine Rolle, aber ich mochte es.
Was für eine Art von Theater war das?
In erster Linie Theater mit ganz wenig Geld. Wir waren alles Freiwillige. Wir mieteten die Räume an, oft Turnhallen von Schulen oder Gemeindezentren. Das Bühnenbild war wirklich sehr sparsam. Wir konnten uns keine großartigen Kulissen leisten. Es handelte sich mehr oder weniger um Storytelling, Geschichten erzählen mit Mitteln des Theaters. Aber es hatte auch sein Gutes, es gab kaum eine Distanz zum Publikum. All das half mir, Freunde zu finden und auch, mich besser auszudrücken. Wir wurden auch eingeladen von verschiedenen Communitys. Wir machten das ziemlich lange. Das letzte Mal, dass ich in einem Stück auftrat, war 2004. Wir wurden auch in andere Städte eingeladen, bis nach Kalifornien.
Handelte es sich beim Publikum vornehmlich um indische Communitys, oder waren auch Menschen aus Bangladesch, Pakistan und anderen Ländern dabei?
Nein, wir spielten auf Punjabi. Deshalb war es für Leute aus Indien, aus Punjab.
Sie selbst haben auch ein Stück geschrieben?
Ja, es war dokumentarisch und basierte auf der Geschichte aus dem Jahr 1914. Damals verließ ein Schiff voll mit indischen Emigranten Indien und legte in Vancouver an. Aber den Menschen wurde nicht erlaubt, an Land zu gehen. Sie wurden für zwei Monate gefangengehalten. Und danach wurden sie gewaltsam zurückgeschickt. Als sie in Indien ankamen, waren sie so enttäuscht, erschöpft und gedemütigt, dass sich viele von ihnen wenig später der Befreiungsbewegung gegen das britische Empire anschlossen.
Bei dem Schiff handelte es sich um die »Komagata Maru«?
Genau. Das war damals eine ziemlich bekannte Geschichte und auch ein wichtiges Ereignis in der Befreiung Indiens. Für die Menschen auf dem Schiff gab es seinerzeit Solidaritätsaktionen in Kanada und den USA. Aber Kanada verweigerte die Einreise. Ein Schlepper zog das Schiff schließlich aus dem Hafen heraus. Als es wieder in Kalkutta eintraf, ging die britische Polizei dort brutal gegen die Menschen auf dem Schiff vor. Viele wurden verhaftet, es gab zahlreiche Tote. Das war die Grundlage des Stücks. Wir spielten es in Kanada in vielen Städten im Jahr 1988.
Wie reagierte die kanadische Bevölkerung auf die Stücke? Kamen die Einheimischen überhaupt?
Unser Publikum bestand meistens aus Leuten aus dem Punjab. Wir spielten ja auch auf Punjabi. In dieser Community hatten wir viel Rückhalt. Sie kannten uns als Theatermacher und Straßentheatermacher und Organisatoren auch anderer Events in der Stadt. Wir nahmen auch an Aktionen zu sozialer Gerechtigkeit teil. Wenn es um den Empfang von Neuankömmlingen ging, waren wir dabei. Wir organisierten Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen auch in anderen Ländern, arbeiteten mit Aktivisten aus Nigeria zusammen und einigen Organisationen aus Lateinamerika. Wir waren natürlich auch in Ereignisse damals in Indien involviert.
Wegen Ihrer Theaterarbeit wurden Sie in Indien inhaftiert.
Ich ging damals wieder nach Indien, um dort professionell Theaterspielen zu lernen. Ich wollte mit den dortigen Theaterkünstlern zusammenarbeiten, mir neue Techniken für das Straßentheater aneignen und dann zurück nach Kanada fahren und hier hauptberuflich als Schauspieler arbeiten. Aber dann wurde ich eingesperrt und verbrachte 21 Monate im Gefängnis.
Was war der Grund für die Verhaftung? Es gab Terrorismusvorwürfe ...
Das waren die Anschuldigungen. Aber es entsprach ganz und gar nicht der Wahrheit. Damals erlaubte die indische Rechtsprechung, dass Menschen zwei Jahre lang ohne jede Anklage im Gefängnis gehalten werden konnten.
Das klingt nicht unbedingt nach Rechtsstaat.
Nein. Ich wurde aber mithilfe dieses Gesetzes festgehalten. Und deshalb brauchten sie nicht einmal die Spur eines Beweises. Dem Richter musste nichts vorgelegt werden. Aber am Ende dieser fast zwei Jahre gab es viel internationalen Druck auf die Regierung, um Gefangene wie mich endlich freizulassen. Auch die kanadische Regierung übte Druck aus. Was immer sie an Anschuldigungen haben mochten, alles wurde schließlich zurückgezogen und ich kam wieder frei. Der Aufenthalt im Gefängnis änderte aber vieles für mich, meine ganze Zukunft gestaltete sich anders.
Sie kehrten dann dem Theater den Rücken und stiegen in die Politik ein?
Ich war immer mit der Politik verbunden. Als ich im Jahr 1999 zurück nach Kanada kam, nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis, nahm ich zunächst die Tätigkeit in unserer Theatergruppe wieder auf. Wir organisierten auch zahlreich andere Veranstaltungen. Aber ich musste einen Job finden, um mich ernähren zu können. Deshalb wurden dann die Theateraktivitäten weniger.
Wie haben die Erfahrungen im Gefängnis, aber auch Ihre Aktivitäten im politischen Theater Sie als Politiker beeinflusst?
Ich denke, meine gesamte Lebenserfahrung fließt da ein, beginnend mit meiner Ankunft hier als Emigrant im Alter von 17 Jahren und den ersten Schritten, um Fuß zu fassen. Aber auch die Unterstützung, die ich von Kanadiern, von Leuten aus der Provinz Alberta erhielt, hat mich geprägt, die Freundlichkeit und Zugewandtheit, das ganze soziale Unterstützungssystem. Deshalb bin ich auch so froh, dass die Gruppe aus Afghanistan, von der sie mir erzählten, die ebenfalls politisches Theater macht, jetzt in Edmonton angekommen ist. Ich hoffe für sie, dass sie ähnliche Erfahrungen wie ich in der Stadt machen. Natürlich nur die positiven, nicht die negativen, sodass sie ihren Platz finden in der Gesellschaft. Und ich wünsche mir, dass sie die Verbindung zu ihrer Kunst, zu ihrem Theaterschaffen nicht verlieren und auch nicht zu ihrer Kultur und ihrer Sprache.
Sie erwähnten negative Erfahrungen. Welche machten Sie hier in Edmonton?
Diskriminierung in der Schule und am Arbeitsplatz, das gab es schon. Auch das Alleinsein machte mir zu schaffen. Anfangs sprach ich kaum Englisch.
Was würden Sie aus Ihrer eigenen Erfahrung Menschen raten, die gerade neu in Kanada, in Edmonton ankommen?
Ich würde ihnen sagen: Lasst euch nicht entmutigen durch die Einsamkeit. Lasst euch nicht entmutigen durch Diskriminierungen, die ihr erfahrt. Sondern betrachtet die Gesellschaft als etwas, das allen hilft, vorwärtszukommen, nach oben zu gelangen, so wie ich auch dank der Gesellschaft nach oben kam. Verlasst euch vor allem auf die Kraft eurer Gemeinschaft, eurer Kultur, eurer Organisation. Und stützt euch auch auf die Stadt, in der ihr seid. Denn die Stadt bietet Neuankömmlingen viel Hilfe und Unterstützung an, von öffentlichen Bibliotheken über öffentlichen Nahverkehr bis zu Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Vieles davon ist kostenlos, vor allem für Wenigverdienende. Und natürlich die Parks, die wir haben, unser Schulsystem, das kostenlose Gesundheitswesen. Also bitte, nutzt das alles, um selbst zu wachsen.
Die Aufgabe der Stadt ist es dann, Lücken zu erkennen, wo es welche gibt, und sie zu beseitigen. Was es vielleicht auch leichter macht: Edmonton ist eine sehr internationale Stadt. Ungefähr jeder dritte Einwohner hier ist nicht in Kanada geboren.
Das bedeutet, dass auch Sie mit Ihrem Geburtsort im Punjab keine Ausnahme in Edmonton sind?
Genau.
Ich habe gelesen, Sie arbeiteten anfangs in Edmonton als Busfahrer. Wie unterschiedlich ist der Blick auf Edmonton - vom Lenkrad eines Busses der Verkehrsbetriebe aus und vom Büro des Bürgermeisters der Stadt?
Ja, ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen. Ich war Taxifahrer und Busfahrer. Dank der Unterstützung hier konnte ich mich entwickeln und wachsen auf vielen verschiedenen Gebieten: intellektuell, als Mensch, auch ökonomisch. Über die Möglichkeiten, die ich jetzt habe, bin ich einfach erfreut. Wir wollen gute Arbeit leisten. Es ist eine Ehre, jetzt die Stadt zu regieren, die mich einst so aufnahm. Deshalb ist meine Botschaft an all die Menschen, die aus Afghanistan oder aus anderen Ländern kommen und nach ihrem Platz hier suchen: Bitte schaut auf meinen Lebensweg. Lasst euch davon inspirieren. Mischt euch ein in die Stadt, überwindet Hindernisse und seht anhand meines Beispiels eure Zukunft. Auch ihr könnt eines Tages Bürgermeister sein oder Stadtrat.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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