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»Merkwürdige Staatsgläubigkeit«
Die Linke hat sich von der Kritik am Staat verabschiedet, diagnostiziert der Politikwissenschaftler Joachim Hirsch. Stattdessen beteilige man sich an der Delegitimierung der Proteste und überlasse Rechtsradikalen das Feld
»Was ist aus der Linken geworden?«, lautete die Eingangsfrage Ihres auf Links-Netz erschienenen Texts, der sich kritisch mit der Rolle der Linken in der Pandemie auseinandersetzt. Wen meinen Sie mit der Linken, und beziehen Sie sich dabei nur auf Deutschland?
»Linke« ist in der Tat ein sehr weiter Begriff, ein recht heterogenes Feld, das von sozialdemokratisch Orientierten oder Anhänger*innen der Grünen bis hin zur Antifa reicht. Ich verwende ihn trotzdem, weil die Verhaltensweisen und Einstellungen, die ich als Versagen bezeichne, über das gesamte Spektrum hinweg festzustellen sind. Allerdings beschränke ich mich dabei auf die deutschen Zustände, weil ich über andere Länder keine so genauen Kenntnisse habe.
Sie vergleichen den Umgang der Linken in der Pandemie mit den Diskussionen rund um den Irak-Krieg vor über 20 Jahren. Wo sehen Sie Parallelen?
Parallelen zum Irak-Krieg gibt es schon, was in diesem Fall die Rechtfertigung des alliierten Einmarsches angeht, übrigens nicht zuletzt auf Grund falscher Geheimdienstinformationen. Aber nicht nur war die deutsche Regierung daran nicht beteiligt, sondern es gab damals im Unterschied zu heute auch noch eine breite und intensive innerlinke Debatte.
Was ist Ihre Hauptkritik am Umgang der Linken in und mit der Pandemie?
Ich beziehe mich vor allem auf eine merkwürdige Staatsgläubigkeit, die den kapitalistische Staat und die sich darin ausdrückenden Machtverhältnisse in Abkehr von der früher geübten Kritik auf einmal als eine Art Sachwalter des Gemeinwohls ansah. Dazu kommt, dass überhaupt nicht thematisiert wurde, dass die Infektions- und Krankheitsrisiken ebenso wie die Folgekosten der staatlichen Maßnahmen klassenspezifisch sehr ungleich verteilt sind. Ein weiterer Punkt ist, dass das kommerzialisierte und privatisierte Gesundheitssystem den Anforderungen einer derartigen, im Übrigen bereits lange schon prognostizierten Infektionslage nicht gewachsen war.
Welche Reaktionen hätten Sie sich gewünscht?
Die Aufmerksamkeit hätte sich auch darauf richten müssen, dass bei massiven Grundrechtseinschränkungen eine Abwägung zwischen dem - wie inzwischen deutlich gewordenen ist, teilweise recht fragwürdigen - Nutzen der Maßnahmen und deren rechtlichen und gesellschaftlichen Folgen hätte stattfinden müssen. Dies geschah in keiner Weise. Ein besonders gravierender Punkt ist schließlich die mit der Coronakrise einhergehende Verstärkung autoritärer Entwicklungen im politischen System, nicht nur durch die Grundrechtseinschränkungen, sondern durch eine faktische Außerkraftsetzung der Verfassung. Dies war eine, wenn auch vorübergehende, Ausschaltung des Parlaments und die Übergabe der Gesetzgebungsbefugnis an ein konstitutionell nicht vorgesehenes Exekutivgremium. Man kann mit guten Gründen vermuten, dass diese Entwicklungen nicht vollständig zurückgenommen werden, schon deshalb, weil inzwischen eine Art Gewöhnung an den Ausnahmezustand eingetreten ist. Ganz abgesehen von den ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die von der Krise und der Krisenpolitik verursacht werden. Es hätte also genügend Anlass für eine linke Kritik gegeben, ohne sich dem Lager der »Corona-Leugner« und Verschwörungstheoretiker zuzugesellen.
Was entgegnen Sie Linken, die betonen, dass sie die Corona-Maßnahmen nicht einhalten, weil sie vom Staat kommen, sondern weil sie die Schwächsten schützen wollen, und das sei eine besondere Form von linker Solidarität?
Inzwischen dürfte klar sein, dass eine Impfung vor Krankheit schützt. Zudem ist der Solidaritätsbegriff in der letzten Zeit von mehreren Seiten so missbraucht worden, dass er kaum noch taugt. Die Ablehnung, die in den laufenden Protestaktionen zum Ausdruck kommt, hat im Übrigen viel damit zu tun, dass größere Teile der Bevölkerung sich politisch nicht mehr vertreten fühlen. Den Ursachen dafür nachzugehen, hätte der Linken ebenfalls gut angestanden.
Beziehen Sie in Ihre Kritik auch Initiativen wie »Zero Covid« mit ein, die kritisieren, dass der Staat die Produktion aus kapitalistischem Interesse nicht geschlossen hat?
Die Kritik an »Zero Covid« richtet sich nicht auf die Feststellung, dass die Politik kapitalistische Interessen bedient hat. Wobei das allerdings in sehr unterschiedlicher Weise geschieht. Da müsste man schon genauer hinschauen, wenn man die Pleiten zur Kenntnis nimmt, die durch die staatlichen Maßnahmen verursacht wurden und werden. Die Kritik richtet sich vielmehr gegen die Vorstellung, man könne den gesamten Produktionsapparat für einige Zeit stilllegen, ohne ein gesellschaftliches Desaster zu riskieren, und gegen die ebenso naive Annahme, das Virus ließe sich damit einfach beseitigen. Wir werden damit leben und damit umgehen müssen.
Sie verweisen in Ihrem Text auf die materialistische Staatskritik, zu der Sie mit Ihren Schriften beigetragen haben. Wo würden Sie die Notwendigkeit dieser Staatskritik in der Pandemie sehen?
Der Staat ist in der Coronakrise sowohl als Repressions- als auch ideologischer Apparat wieder deutlicher hervorgetreten. Gut belegt ist die Strategie der Regierung, durch Verbreitung von Angst die Bereitschaft zur Hinnahme von Restriktionen zu fördern. Das war offensichtlich wirksam. Angst ist ein altes und sehr wirksames Mittel der Herrschaftssicherung. Eine kritische Auseinandersetzung damit, was »Staat« in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bedeutet und welche Machtkalküle die Regierenden antreiben, wäre also gerade hier recht naheliegend.
Sie betonen auch die relative Autonomie der Staatsapparate vom Kapital. Können Sie diesen Terminus aus der materialistischen Staatskritik kurz erklären?
Der Ausdruck relative Autonomie des Staatsapparats stammt von dem marxistischen französischen Politologen Nicos Poulantzas. Das ist ein besonderes Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ökonomische und politische Herrschaft formell getrennt sind. Ein Grund dafür liegt darin, dass die in einem wechselseitigen Konkurrenzverhältnis stehenden Kapitale gar nicht imstande sind, eine gemeinsame politische Strategie zu formulieren. Es bedarf daher einer außerhalb des Kapitals stehenden Instanz, die in der Lage ist, die Voraussetzungen für den Erhalt und die Entwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten. Das schließt ein, dass der Staat gegebenenfalls durchaus auch gegen die Interessen einzelner Kapitale handeln muss. Hier deutet sich auch der enge Zusammenhang zwischen der Herausbildung des zentralisierten absolutistischen Staates und der Entwicklung des Kapitalismus an.
Sie sehen in der relativen Autonomie des Staates eine Ursache für das von Ihnen diagnostizierte Versagen der Linken in den 70er Jahren. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Die relative Autonomie der Staatsapparatur sorgt für den Anschein ihrer Neutralität und Offenheit gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Interessen. Es kann damit der Eindruck entstehen, unter liberaldemokratischen Bedingungen sei sie dem Gemeinwohl verpflichtet. Was dabei übersehen wird, ist das Relative dieser Autonomie. Das Handeln des Staates bleibt an die Bedingungen der Kapitalverwertung, das heißt Profitmaximierung, und die Verfügbarkeit profitabler Investitionsmöglichkeiten gebunden. Schon als Steuerstaat ist er darauf angewiesen, dass die Wirtschaft, also die Kapitalverwertung funktioniert. Das ist nicht zuletzt die Voraussetzung seiner materiellen Existenz. Kurzum: Gerade in seiner relativen Autonomie erweist sich der Staat als integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses.
Aktuell gibt es unter Linken eine heftige Diskussion über den Umgang mit den Protesten der Impf- und Maßnahmenkritiker*innen. Wäre es sinnvoll, wenn Linke dort mit eigenen Inhalten intervenieren, wie es in manchen Städten geschieht?
Es wäre sinnvoll gewesen, genauer hinzuschauen, um wen es sich bei den Protestierenden handelt. Es sind eben nicht nur Rechtsradikale, Esoteriker*innen und Verschwörungstheoretiker*innen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass ein wesentliches Motiv bei vielen darin besteht, den Staat als fremde, eher feindlich gegenüberstehende Macht zu erleben, als »das System« eben. Das verweist auf eine tiefsitzende Krise der liberalen Demokratie, die auch eine Folge der neoliberalen Offensive und der Demontage des Sozialstaats ist. Es wurde durchaus wahrgenommen, dass in der Krise große Konzerne mit Milliarden unterstützt und kleine Gewerbetreibende allein gelassen wurden. Aufgabe der Linken wäre es gewesen, sich mit einer Kritik an diesen Zuständen und an den Versäumnissen bei der Infektionsbekämpfung einzubringen, an statt in den medialen Mainstream der pauschalisierenden Delegitimierung einzustimmen und damit das Feld den Rechtsradikalen zu überlassen.
Joachim Hirsch, geboren 1938, war Professor für Politikwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er engagiert sich bei Links-Netz und ist Vorstandsmitglied von Medico International. Seit den 70er Jahren hat er die staatstheoretische Diskussion innerhalb der kritischen Gesellschaftstheorie wesentlich geprägt, mit Büchern wie »Der Sicherheitsstaat« (1980) und »Materialistische Staatstheorie« (2005).
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