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Chinas geopolitischer Aufstieg
Im Schatten der Ukraine-Krise entwickelt sich die Volksrepublik zum weltpolitischen Akteur ersten Ranges
Rom war im Laufe der Jahrtausende Schauplatz zahlreicher historischer Ereignisse. Die italienische Hauptstadt steht auch als Symbol für den Aufstieg und Fall großer Imperien. Welches Imperium sich aktuell im Aufstieg oder Fall befindet, war am Montag dieser Woche nicht Gesprächsgegenstand, als sich am Tiber Vertreter Chinas und der USA zu Unterredungen trafen. Das rasante Erstarken der Volksrepublik – nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als geopolitische Supermacht – war schon daran ersichtlich, dass an dem Treffen zu Beginn der Woche der ranghöchste Außenpolitiker der Kommunistischen Partei Chinas, Yang Jiechi, und der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jacob Sullivan, teilnahmen. Ursprünglich geplant war eine Unterredung, um die angespannten Beziehungen zwischen den beiden Supermächten neu zu organisieren. Doch durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine wurden die Gespräche natürlich von diesem Konflikt überschattet. Zum ersten Mal steht dabei Peking im Zentrum der Bemühungen westlicher Staaten, einen weltpolitischen Konflikt zu lösen. Dies war weder im Irak oder Syrien noch in Afghanistan der Fall.
Wer aber in Washington, London oder Brüssel davon ausging, China würde nach der Pfeife des Westens tanzen, wurde schnell von den Realitäten eingeholt. Die außenpolitische Denkschule Pekings basiert zunehmend auf den Theorien von Fang Ning, einem der führenden politischen Theoretiker Chinas. Er analysierte bereits im Jahr 1999, dass bei genauer Betrachtung auffällt, dass seit dem Triumph der Alliierten über Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg kein einziger Krieg mehr von den USA nachhaltig gewonnen wurde. Ganz von den konventionellen Großeinsätzen in Korea und Vietnam abgesehen, so gab es nirgendwo einen Sieg zu vermelden, nicht einmal bei den Scharmützeln von Somalia, beim Einsatz der Contras in Nicaragua, vom Debakel John F. Kennedys in der Schweinebucht ganz abgesehen. Im Südlibanon, im Irak, in Afghanistan hat sich längst bestätigt, dass die konventionelle Kriegsführung der Nato-Stäbe, aber auch Russlands und Israels, mit der Abnutzungsstrategie, die den Kern des asymmetrischen Krieges bildet, nicht zurechtkommt, so der Politologe und außenpolitischer Vordenker Pekings. Fang Ning reflektierte in seinen außenpolitischen Analysen einen Wesenskern des chinesischen Blickes auf die Welt.
Hervorgerufen durch den rasanten ökonomischen Aufstieg Chinas hat jedoch eine grundsätzliche außenpolitische Neuorientierung in diesem Zeitraum begonnen. Chinesische Theoretiker orientierten sich seit damals zunehmend an den Analysen US-amerikanischer Politikwissenschaftler zur Außenpolitik.
Sechs bis sieben Stunden dauerten die Gespräche in Rom. Beide Seiten hätten eine »ausführliche Diskussion über den Krieg Russlands gegen die Ukraine« gehabt, hieß es in einem Statement der US-Regierung im Anschluss an das Treffen. Die chinesische staatliche Nachrichtenagentur Xinhua beschrieb das Gespräch als »konstruktiven Dialog«.
Rund 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, nach der Überwindung des Ost-West-Konfliktes, hat sich die Nato darauf geeinigt, China sowie seine politische und wirtschaftliche Potenz als »Herausforderung« einzustufen. Skeptiker könnten vermuten, dass das westliche Militärbündnis nach dem Verlust seiner einstigen Gegner gar nicht anders kann, als regelmäßig neue Feindbilder zu konstruieren, schon allein deshalb, um seine eigene Existenz zu rechtfertigen. Am Umgang mit China jedoch offenbart sich mit betrüblicher Deutlichkeit, in welchem Ausmaß den Europäern und US-Amerikanern das geschichtliche Bewusstsein verloren gegangen ist. Die Fehldiagnose des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama vom »Ende der Geschichte« war auf allzu fruchtbaren Boden gefallen. Die westliche Welt begegnet dem phänomenalen Aufstieg Chinas in den Rang der zweiten Weltmacht mit einem Gemisch aus Arroganz und Missgunst. Die kaum zu bändigende Dynamik der Volksrepublik erzeugt wachsende Furcht im Westen.
China sieht sich selbst als »Großmacht«
»Wir beobachten derzeit sehr genau, zu welchem Grad China tatsächlich Russland irgendeine Form von materieller oder wirtschaftlicher Unterstützung leistet«, ließ demzufolge Sullivan vor dem Abflug nach Rom verlautbaren.
China sieht sich selbst als »Großmacht« (daguo), allerdings ohne den globalen Anspruch und das kulturelle Sendungsbewusstsein früherer Imperien – insbesondere von den Weltordnungskonzeptionen der USA. In Peking wird schon seit geraumer Zeit das Prinzip des »zweifachen Anleitens« (liang’ge yindao) propagiert, als Gegenmodell zu einem westlichen Weltführungsanspruch. Vielmehr wird dadurch ein Mitgestaltungs-, aber kein Machtmonopolanspruch vertreten, also ein Modell auf Augenhöhe mit den USA. China Global Standards 2035 – ein Strategiepapier, das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde – verdeutlicht die neue außen- und verteidigungspolitische Stoßrichtung Chinas, wonach die Phase der anfänglichen diplomatischen Anlehnung und Anpassung an die bestehenden Regelwerke als abgeschlossen gilt – und China sich nun verstärkt als aktiver Mitgestalter der Weltpolitik sieht, also als »rule maker« statt als »rule taker«.
Bezogen auf den Krieg in der Ukraine und auf die Beziehungen zwischen Moskau und Peking bedeutet dies nicht, dass hier ein neuer »Mega-Ostblock« im Entstehen ist, wie es das Redaktionsnetzwerk Deutschland nach dem Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Peking im Februar sorgenvoll kommentiert hatte. Allerdings bedeutet es aus der Perspektive Pekings, dass die Macht des Westens erodiert und mit ihr die weltpolitische Ordnung der letzten drei Jahrzehnte, zu deren Beginn der US-Politologe Fukuyama seine Fehlprognose vom »Ende der Geschichte« formuliert hatte.
China profitiert von der aktuellen geopolitischen Gemengelage. Peking fühlt sich in seiner globalpolitischen Analyse bestätigt, welche seit der Flucht der US-Amerikaner und ihrer Verbündeten aus Afghanistan im August vergangenen Jahres fortlaufend erneuert und angepasst wird. Deutlich wird dies dadurch, dass man sich in Peking im Bezug zum Ukraine-Krieg nicht dem westlichen Narrativ unterzuordnen gedenkt, weshalb China regelmäßig auf die Nato-Osterweiterung als Ursache des Krieges in der Ukraine verweist.
Der Schlüssel zur Beilegung des Konflikts liege bei ihnen, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Peking, womit er die Nato meinte. Im Vorfeld des geplanten Telefonats zwischen US-Präsident Joe Biden und dem chinesischen Staatschef Xi Jinping am Freitag verschärfte sich der Ton zwischen den beiden Großmächten. Die beiden Staatsoberhäupter kommunizierten um 14 Uhr deutscher Zeit erstmals seit der russischen Invasion in der Ukraine direkt miteinander. Auch dieses Faktum unterstreicht den geopolitischen Aufstieg Chinas während des Krieges in der Ukraine, denn nie zuvor wurde in Washington die chinesische Seite zur Konfliktlösung dermaßen beansprucht und benötigt.
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