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Den Berg mit Kühen finden
Es liest sich gut, wie man so schön sagt, aber stimmt es auch? »Yoga« von Emmanuel Carrère
Emmanuel Carrère, der Mann, der in seinen Büchern niemals lügen wollte und vorhatte, für ewig nur über wahre, also tatsächlich geschehene Dinge zu schreiben, hat es getan: In seinem neuen Buch (in Frankreich bereits 2020 erschienen) hat er gelogen. Er musste es tun, aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes seiner Exfrau Hélène Devynck.
Er war gezwungen, zu literarisieren - soll heißen: schöne Sätze zu erfinden, um unschöne Dinge zu unterlassen. Ach Gottchen, könnte man meinen, es ist doch sowieso alles nur Literatur. Ja, aber es geht um Carrère, der seit über 20 Jahren autobiografisch schreibt.
Er brachte in all seinen Büchern das Wunder zustande, zugleich sehr eitel und sehr bescheiden zu schreiben. Als er 2011 über den abgedrehten russischen Schriftsteller und Politiker Eduard Limonow schrieb, ging es immer auch zu mindestens einem Drittel um ihn und seine Familiengeschichte. Seiner Mutter war das stets egal - solange ein gutes Buch dabei herauskommt, ist nach ihrem Dafürhalten jedes Mittel recht, teilte er mit.
Genau das machte Carrères Bücher bislang besonders reizvoll, darum wird er in Frankreich sehr und auf der ganzen (westlichen) Welt ein bisschen geliebt. Und er hätte für »Yoga«, das nun auf Deutsch vorliegt, 2018 in Frankreich fast den Prix Goncourt bekommen. Da dieser aber nur an fiktionale Literatur gehen darf, ging er leer aus. Doppelt bestraft. Einmal von der Exfrau, dann von der Jury.
Als er 2015 begann, dieses Buch zu schreiben, war er voller Hoffnung. Der Alltag floss leicht dahin, er lebte mit seiner Frau ein schönes Leben auf den Latifundien - aber dann ging es abwärts. Erst kam das islamistische Attentat auf die Redaktion von »Charlie Hebdo«, bei dem einer seiner Freunde getötet wurde. Dann streckte ihn eine bipolare Erkrankung nieder, in deren Folge Depressionen am Lebensfaden nagten. Seine Frau verließ ihn mit viel Mediengetöse, er kam in die geschlossene Psychiatrie. Anschließend lernt er auf der griechischen Insel Leros eine Gruppe jugendlicher Geflüchteter kennen. Als er sich wieder ins Leben einordnet, stirbt sein langjähriger Verleger. Er braucht schlussendlich drei Jahre, um wieder ein halbwegs normales Leben zu führen.
Darum geht es im Groben in »Yoga«, einem herzzerreißend bitteren Buch, das einer Wanderung vom Tal auf den Gipfel gleichkommt. Auch wenn seine Exfrau in der französischen Ausgabe der »Vanity Fair« mitgeteilt hat, dass Carrère in Wahrheit nicht Monate auf Leros verbracht habe, sondern nur wenige Tage, und zwar mit ihr zusammen. Und dass er nicht nach seinem Krankenhausaufenthalt dort war, wie im Buch dargestellt, sondern noch vor seiner Diagnose.
Carrère ficht das nicht so an. Er stellt grundlegende Überlegungen an: Er fragt sich, ob er überhaupt den Gipfel erreicht oder nur bis zum Berg mit den Kühen kommt. Immerhin hat er bis zum Berg mit den Kühen schon einige wesentliche und sehr miese Täler durchschritten. Für ihn ist das eine Form von Yoga. Immer wieder versucht er sich an Ausdeutungen dieser Bewegungslehre. Für ihn ist das eine Art Kitt zwischen Widrigkeiten und extremen Gegensätzen, in denen er sich auf seiner Reise durch den Wahnsinn bewegt.
Tatsächlich ist dieses Buch eine harte Selbstanalyse, aber auch eine Selbstanklage, weil Carrère in seiner tiefen Verzweiflung die Schuld für seinen Abstieg in die Dauerkrise nur bei sich selbst sucht. Stilistisch bewegt er sich dabei zwischen Autobiografie und halb journalistisch erzählter Chronik. Am stärksten ist »Yoga«, wenn sich Carrère den Menschen, denen er begegnet, öffnet und ihre Geschichten erfährt, was häufig mit viel Alkohol geschieht und nicht immer gut ausgeht. Ist der Berg mit Kühen der Gipfel oder vielleicht doch nur das nächste gut getarnte Tal?
Dass die Geschichte seiner beendeten Liebe zu Hélène Devynck nur kurz am Ende in wenigen Sätzen vorkommt, muss bitter für ihn sein, weil sie in vielen seinen vorherigen Büchern eine wichtige Rolle spielte. Ein kleiner Gimmick am Rande sind Verweise auf »Tim und Struppi«; davon finden sich übrigens auch welche im neuen Roman von Michel Houellebecq, »Vernichten«.
Wahr ist, Yoga ist gewiss ein inniges, ein geistvolles Buch, das viel über Gymnastik und Depressionen erzählt und vor geistlichen Übungen und Terrorismus nicht haltmacht. Wir erfahren viel über Atmung, Einsamkeit und das Sterben. Es liest sich gut, wie man so schön sagt. Selbst wenn man nichts über die wahren Hintergründe weiß oder nur sehr wenig. Oder wenn man Yoga versteht wie der junge Mann aus dem ersten Kapitel, der auf die Frage, woran er während des zehntägigen Yoga-Schweigekurses gedacht hat, »Titten, Titten« stottert. Ist das verstörend? Ja!
Emmanuel Carrère: Yoga. A. d. Franz. v. Claudia Hamm. Matthes & Seitz, 328 S., geb., 25 €.
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