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Ökonomie der Werte
Deutschland rüstet auf zur Verteidigung der »regelbasierten Weltordnung«. Was ist damit gemeint?
Russlands Angriff auf die Ukraine verursacht nicht nur immenses menschliches Leid. Er stelle auch einen »Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung« dar, so Annalena Baerbock vergangene Woche. Damit nimmt die Außenministerin einen Terminus auf, der in den vergangenen Jahren eine steile Karriere erlebt hat. »Still und leise ist der Kampf für eine ‚regelbasierte Weltordnung‘ zum höchsten und letzten Zweck der deutschen Außenpolitik avanciert«, schrieb schon 2020 Jörg Lau in der Zeitschrift »Internationale Politik«. Kein Grundsatztext komme mehr ohne diese Phrase aus.
Nicht nur in Deutschland: Vor zwei Jahren kündigten die Regierungen Europas und Chinas an, die »regelbasierte Weltordnung« gegen die unilaterale US-Politik unter Donald Trump zu verteidigen. Und vor einem Jahr nannte US-Außenminister Antony Blinken als zentrales Ziel Washingtons die »Stärkung der internationalen regelbasierten Ordnung«.
Der Terminus benennt etwas scheinbar Gutes, Vernünftiges – schließlich ist Ordnung besser als Unordnung und Regeln sind besser als Gewalt oder Zwang. Auf dieser Vernunft, so heißt es, beruht auch die globale Wirtschaft, deren Gedeihen nun gefährdet ist: »Der Krieg kann die weltweite wirtschaftliche und geopolitische Ordnung grundlegend verändern, wenn sich der Energiehandel verschiebt, sich Lieferketten verändern und Zahlungsnetzwerke zerfallen«, warnte vergangene Woche der Internationale Währungsfonds (IWF). Und Larry Fink, Chef des Vermögensverwalters Blackrock, sieht mit dem Krieg »das Ende der Globalisierung, wie wir sie in den vergangenen drei Jahrzehnten erlebt haben«.
Damit, so der Ökonom Clemens Fuest im »Handelsblatt«, stehe »unser Wohlstand steht auf dem Spiel. Wenn es zu einer dauerhaften Abschottung Russlands und Chinas vom internationalen Handel kommt, wird Deutschland einer der Hauptverlierer sein.« Auf den »Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung« reagiert die Bundesregierung laut Baerbock mit einer »wertegeleiteten Außenpolitik«, die »bedeutet, gleichzeitig Werte und Interessen – auch wirtschaftliche Interessen – zu verteidigen. Weil das eine mit dem anderen ganz eng zusammenhängt.«
Dass hier Regeln als Alternative zu Zwang und Gewalt aufgeführt werden, verweist auf Gegensätze zwischen den Staaten, die wesentlich ökonomischer Natur sind. Die »regelbasierte Ordnung« regelt das Verhältnis von Konkurrenten um Macht und Geld und damit den Weltmarkt. Der Reihe nach:
I. Unternehmen und Standort
Unternehmen im Kapitalismus streben nach wachsendem Umsatz und Gewinn. Bei diesem Streben stellt die nationale Grenze zunächst ein Hindernis dar. Statt auf den Heimatmarkt beschränkt zu bleiben, wollen die Unternehmen Güter ins Ausland verkaufen. Zudem benötigen sie von dort Rohstoffe und Agrarprodukte sowie billige Vorprodukte, um ihre Produktionskosten zu senken. In die gleiche Richtung wirkt die Verlagerung von Produktion ins Ausland, also der Kapitalexport.
Diesem Bedürfnis der Unternehmen kommt die Politik nach, um das nationale Wirtschaftswachstum zu stärken, von dem jede Regierung finanziell abhängt. Um ihren Unternehmen das Ausland als Absatz- und Investitionssphäre zu erschließen, machen Staaten ihre Grenzen durchlässig, öffnen den Multis globale Absatzmärkte und Bezugsquellen. Die 40 Konzerne aus dem Deutschen Aktienindex erzielen heute drei Viertel ihres Umsatzes im Ausland.
Im Gegenzug öffnet ein Staat seinen heimischen Markt der ausländischen Konkurrenz. Um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein, verbessert er die heimischen Standortbedingungen für Investitionen: Infrastruktur, niedrige Steuern, wettbewerbsfähige Löhne, Technologieförderung etc. Ergebnis ist die »internationale Wettbewerbsfähigkeit« eines Standortes, die regelmäßig in Rankings gemessen wird. Die Standortpolitik dient zum einen dazu, die heimischen Unternehmen in eine gute Position in der Konkurrenz mit dem Ausland zu bringen. Zum anderen wird so ausländisches Kapital angezogen, um das nationale Wirtschaftswachstum zu stärken. Diese Ziele verfolgen alle Staaten mit- und gegeneinander und machen sich so Anteile am globalen Wachstum streitig.
II. Weltmarkt und Regeln
Für die meisten Länder der Welt ist das grenzüberschreitende Geschäft also kein Zusatz mehr zum nationalen Markt. Es ist notwendiger Bestandteil dieses Wachstums gerade für erfolgreiche Staaten wie Deutschland. »Kein Land hat seinen Wohlstand so auf offene Märkte und eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung gebaut – eine Weltordnung, die nicht erst mit dem Angriffskrieg Russlands erschüttert ist«, schreibt das »Handelsblatt« diese Woche.
Ziel in der internationalen Konkurrenz ist nicht der Sieg über die Wettbewerber, sondern ihre dauerhafte Benutzung. Daher sind gerade weltweit vernetzte Länder daran interessiert, dass sich erstens möglichst alle Staaten der globalen Konkurrenz aussetzen und dass zweitens diese Öffnung gewährleistet bleibt. Die dauerhafte Kooperationsbereitschaft von Regierungen wird organisiert über ein System global verbindlicher Regeln in Form von Handels- und Investitionsschutzabkommen und von Institutionen wie dem IWF oder der Welthandelsorganisation WTO. Diese vertraglich fixierten Regeln bilden den Rechtsrahmen der globalen Konkurrenz und sollen auch jene binden, die unzufrieden mit den Ergebnissen des Weltmarkts sind.
Die zwischenstaatlichen Verträge legen fest, was Staaten dürfen und was sie zu unterlassen haben, was sie ausländischen Wettbewerbern erlauben müssen und was sie ihnen verbieten können. Welche Regeln gelten, ist daher entscheidend für die Frage, wer bei der Benutzung des Weltmarkts erfolgreich ist und wer weniger. Entscheidend ist damit, wer die Regeln gemäß den eigenen Interessen setzen kann und wer sie bloß zu befolgen hat.
Maßgeblich gestaltet werden die Regeln meist von den Industrieländern Nordamerikas, Westeuropas und Japan. Ihre Macht gestattet es ihnen, dem Rest der Welt die Bedingungen des internationalen Geschäfts zu setzen – Regeln sind geronnene Machtverhältnisse. Mit China tritt ihnen nun ein Land gegenüber, das »durch seinen Aufstieg in der Lage sein wird, einige Regeln selbst zu bestimmen«, so der Harvard-Politologe Steven M. Walt.
Damit ist die »regelbasierte Weltordnung« laut Politikern in den USA und der EU gefährdet. In diesem Sinne stellt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine keine »Zeitenwende« dar, sondern bloß eine Verschärfung bestehender Probleme: Die Verspannungen der internationalen Lieferketten haben für eine materielle Knappheit an Gütern weltweit und damit für eine härtere Konkurrenz gesorgt – diese Situation verschärft sich durch den Krieg und die Sanktionen. Gleichzeitig droht aus Sicht des Westens eine russisch-chinesische Allianz, damit auf Dauer eine Fragmentierung des Weltmarkts in Einflusszonen und in der Folge ein Ende des »einen Weltmarkts« mit für alle verbindlichen Normen, die der Westen maßgeblich setzt.
»Letztlich geht es nicht darum, ob die USA eine regelbasierte Ordnung haben wollen und China nicht«, erklärt Walt. »Im Kern konkurrieren die USA und China darum, wer festlegt, was Recht ist.« Dies sei die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts – und es ist keine juristische Frage, sondern eine Frage der Macht, das eigene Interesse für alle verbindlich zu machen.
III. Sicherheit und Weltordnung
In ihrer Rede zur Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands kritisierte Außenministerin Baerbock Russland und »andere autokratische Regime, die Freiheit und Demokratie und Sicherheit in Frage stellen, die unsere internationalen Regeln brechen«. Es gehe daher darum, »unsere Sicherheit zu verteidigen«, und zwar »sowohl hier vor unserer Haustür, zehn Autostunden von hier entfernt, genauso wie in der vernetzten Welt« – also global. Dafür müsse Deutschland handlungsfähig sein, was zum einen »bedeutet, nicht abhängig und erpressbar zu sein in seinen Wirtschafts- und Energiebeziehungen«. Zum anderen »liegt unsere Stärke in unserer internationalen Geschlossenheit«, also vor allem in der Kooperation mit den USA.
Die Nationale Sicherheitsstrategie beinhaltet daher die Aufrüstung des Militärs, um ein größeres Gewicht innerhalb der Nato zu erlangen, in der Deutschland laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine »dienende Führungsrolle« anstrebt. Aber auch die Wirtschaft wird zur Waffe: Um sich unabhängiger vom Ausland zu machen, zielen Deutschland und die EU auf eine »strategische Autonomie« nicht nur bei der Energieversorgung, sondern auch bei Batterien, Computerchips oder Hochleistungscomputern. Die Produktion »strategischer« Güter soll in Europa und damit im eigenen Einflussbereich angesiedelt werden, um unabhängiger vom Ausland zu werden. Im Gegenzug werden etablierte ökonomische Abhängigkeiten genutzt, um über Sanktionen Druck auf andere Staaten auszuüben. Als riesiger Binnenmarkt »sollte die EU ihre Handelsmacht vermehrt strategisch einsetzen«, rät die ehemalige EU-Kommissarin Cecilia Malmström.
Im »Kräftemessen des 21. Jahrhunderts«, so Baerbock, wird alles zum Mittel der nationalen Sicherheit: Handelspolitik, Infrastrukturpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, »das gehört alles zusammen«, sagt Baerbock. Auch Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung, schließlich »ist technologische Überlegenheit die Basis für wirtschaftliche Stärke, und wirtschaftliche Stärke ist die Basis für politische und militärische Macht«, so Thiess Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung.
Zudem erneuern die EU und Deutschland ihr Bündnis mit den USA, insbesondere zur Eindämmung Chinas und Russlands. Zu diesem Zweck dient der im vergangenen Herbst gegründete Handels- und Technologierat. Bundesfinanzminister Christian Lindner setzt sich für einen neuen Anlauf zu einem Freihandelsabkommen mit den USA ein. »Gerade jetzt in der Krise zeigt sich, wie wichtig der freie Handel mit Partnern in der Welt ist, die unsere Werte teilen«, sagte Lindner diese Woche dem »Handelsblatt«.
Mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln arbeitet der Westen am Erhalt seiner regelbasierten Weltordnung. Und »die kommenden Wochen eröffnen eine goldene Chance, diese Ordnung neu zu gestalten«, schreibt John Micklethwait auf dem US-Portal Bloomberg, damit »McDonald’s am Moskauer Pushkin Platz wieder eröffnen kann.«
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