Nicht mit zweierlei Maß in der Außenpolitik

Gehen im Sog des Krieges wichtige Lehren aus der Konfliktgeschichte über Bord?

  • Corinna Hauswedell
  • Lesedauer: 6 Min.

Mit dem Begriff der »Zeitenwende« wird seit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Bundestag am 27. Februar 2022 eine umfassende Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik begründet. Vom großen »Paradigmenwechsel« ist die Rede. Vielen erscheint dies einleuchtend angesichts des völkerrechtswidrigen Krieges, den Putin gegen die Ukraine führt, oder sogar zwingend geboten. Aber es lässt auch viele von uns ratlos zurück und wirft neue Fragen auf.

Die Entsendung von 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ »Stinger« an die Ukraine ist eine - unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse vielleicht nachvollziehbare - Kehrtwende gegenüber dem vorher unzweifelhaft richtigen Verzicht auf Waffenlieferungen. Dieser Verzicht war in der deutschen Geschichte, die nicht über Nacht vergangen ist, gut begründet. Aktuell war das Paradigma des Verzichts auf Waffenlieferungen in »heiße Konflikte« auch dadurch begründet, dass Deutschland zu Recht befürchten konnte, durch Waffen noch mehr zur Partei im Konflikt zu werden und so mögliche Vermittlungstüren zu schließen.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Alles obsolet? Andere, auch kleinere Staaten Europas und die Zivilgesellschaften werden in die nun entstandene Lücke für den dringend nötigen, erneuerten Dialog mit Russland springen müssen. Die weitreichenderen Weichenstellungen allerdings - für eine bisher undenkbare Auf- und Ausrüstung des deutschen Militärs mittels eines grundgesetzlich verbrieften (und damit für künftige Regierungen gültigen) Sondervermögens von 100 Milliarden Euro - sind weder ausreichend begründet noch in den Fraktionen des Bundestages, geschweige denn in der deutschen Öffentlichkeit bisher diskutiert.

Das nährt die Sorge, dass Kanzleramt und Außenministerium im Sog des Krieges wichtige Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse über Bord werfen, dass Weichen ohne ausreichend strategischen Kompass für eine friedlichere Zukunft gestellt werden. Allzu umstandslos werden die außenpolitischen Paradigmen der vergangenen Jahrzehnte - zumindest im Hinblick auf die Russland-Politik - als »illusionär«, »naiv« oder gar »verlogen« verabschiedet. Das ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern diskreditiert wissenschaftlich begründete Friedens- und Sicherheitspolitik, wie sie sich aus den bitteren Lehren der Weltkriege sowie des Kalten Kriegs entwickelt hatte.

Radikales Umdenken fordert auch zum Beispiel der Politikwissenschaftler Herfried Münkler: Er sieht das Ende einer auf gegenseitiger Interessenwahrnehmung und Vertrauensbildung basierten Politik und Zeiten eines »generalisierten Misstrauens« aufziehen. Konfrontation werde an die Stelle von Kooperation treten - das »Ende der Diplomatie« sei gekommen. Es gelte, Abschied zu nehmen vom »Win-win«-Denken, das viele angesichts der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die uns alle treffen, auch aus guten Gründen für erforderlich zwischen Staaten und Gesellschaften unterschiedlicher Werte- und Politikordnungen gehalten haben.

Also alles falsch, alles auf den Prüfstand?

Scholz’ Aussage, dass sich »nicht alle Bedrohungen der Zukunft mit den Mitteln der Bundeswehr einhegen lassen«, ist kein Versprecher. Nicht alle? Den allerwenigsten Bedrohungen, allen voran Klimawandel und Ressourcenknappheit, Pandemien, selbst Cyberkonflikten oder Terrorismus lässt sich mit militärischen Mitteln wirksam beikommen! Das zeigen leider die meisten jüngeren Erfahrungen mit dem zivil-militärischen Einsatz der sogenannten »vernetzten Sicherheit«.

Militärisches Eingreifen, sei es durch Truppenentsendung oder Waffenlieferungen, auch wenn dies in »stabilisierender« oder »abschreckender« Absicht geschah, hat in fast allen untersuchten Fällen eher eskalierend und eben nicht sicherheitsbildend gewirkt (zum Beispiel in Afghanistan oder Mali); und leider wurden oft parallel laufende zivile Interventionen mit dem Ziel einer politischen, ökonomischen oder humanitären Stabilisierung durch militärisches Handeln konterkariert.

Die Angst vor einer drohenden Eskalation des Krieges, den wir jetzt erleben, ist real und berechtigt, und treibt die meisten von uns um. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber für die Suche nach Auswegen. Militärische Gewaltanwendung entwickelt fast immer eine gefährliche Eigendynamik, der Drang zur Eskalation hängt mit der martialischen »Natur« der Waffen und den Irrationalismen derer zusammen, die sie einsetzen. Aber wie das Unberechenbare stoppen?

Mit der Auffassung, Putin wolle mit seinem »Imperialismus« zurück ins 19. Jahrhundert, lagert man schurkenhaftes staatliches Handeln in die Vergangenheit aus, als ob es im Jetzt keine vergleichbare Herrschafts- und Machtpolitik gäbe. Die Ursachen für eine Renaissance von Nationalismen, wie wir sie gegenwärtig in vielen unserer modernen Gesellschaften erleben, sind multivalent und können autoritäre Staatsstrukturen befördern. Sie entspringen heutigen öko-sozialen Verwerfungen und leider ist militärbasiertes Großmachtstreben auch den liberalen Demokratien des 20. und 21. Jahrhunderts nicht fremd. Die immens hohen Militärbudgets und die damit verbundenen Strategien der großen Nato-Staaten (Nuklearstrategien inklusive), allen voran der USA, sprechen eine klare Sprache.

Eine neue Realpolitik, wie sie in Berlin jetzt erkennbar wird, wäre also gut beraten, nicht mit zweierlei Maß zu messen, wenn es um die friedliche Lösung der Zukunftsaufgaben geht, vor denen wir stehen. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, die der Putin-Krieg erneut nahezulegen scheint, erlebten wir zuletzt in den 80er Jahren, der Schlussphase des Kalten Krieges, und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit dem »War on Terror«: mit den bekannten Folgen internationaler Verfeindung, die den Gedanken zu vernebeln droht, dass Sicherheit auf unserem Planeten nur gemeinsam und nicht gegeneinander zu haben ist. Eine solch umfangreiche Verfeindung ist im Zeitalter neuer Geopolitik, in dem China als wichtiger Akteur zutage tritt, eine fatale Entwicklung. Ohne schließlich auch Russland als konstruktiven Akteur wieder auf die Weltbühne zurückzugewinnen, wird es nicht gehen. Ein Blick nach Sibirien, wo eine ungehemmte Erderwärmung das Auftauen des Permafrosts und die Freisetzung ungeahnter Mengen an Treibhausgasen begünstigen und damit den ganzen Planeten bedrohen wird, sollte genügen.

Die zentralen Botschaften der Regierungserklärung von Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 müssen sich also dreifach fragen lassen: Sind sie tragfähig hinsichtlich einer Deeskalation der akuten Kriegssituation, der Schaffung neuer Voraussetzungen für eine europäische Friedensordnung, und eines deutschen Beitrages für eine gerechte internationale Klimapolitik der Zukunft?

Im Hinblick auf die ersten beiden Fragen sind den oben angeführten Argumenten zufolge ernsthafte Zweifel angebracht. Die dritte Frage hängt mit den beiden ersten eng zusammen: Eine solche Weichenstellung, welche die »Zeitenwende« mit einer neuen Aufrüstungs- und Militarisierungswelle einläutet, wird sicherlich nicht genügend Ressourcen oder Sondervermögen bereithalten, weder ideell noch materiell, um die immensen strategisch-konzeptionellen und finanziellen Investitionen zu tätigen, die wir für den Umbau einer nachhaltigen, sozial gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung brauchen.Besserwisserei ist gegenwärtig gewiss besonders fehl am Platze. Zu vieles ist ungewiss. Aber ernst gemeinte Sorgen aus der Kenntnis der wechselvollen Konfliktgeschichte auch unseres Landes seien erlaubt.

Dr. Corinna Hauswedell vom Conflict Analysis and Dialogue in Bonn ist Historikerin, Friedens- und Konfliktforscherin. Lange war sie Mitherausgeberin des Friedensgutachtens. Der hier veröffentlichte Text, der unmittelbar nach Ankündigung des deutschen Aufrüstungsprogramms entstand, erschien zuerst auf der Webseite der friedenspolitischen Zeitschrift »W & F« (Wissenschaft und Frieden), deren Beirat Corinna Hauswedell angehört. Im Netz: wissenschaft-und-frieden.de & hauswedell-coad.de

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