Shanghai in Schockstarre versetzt

Auch in der 26-Millionen-Einwohner-Metropole häufen sich die Coronafälle. Viele fürchten inzwischen aber mehr die Zwangsquarantäne

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Ohnmachtsgefühl ist bedrückend: Millionenfach teilen die Bewohner der ostchinesischen Wirtschaftsmetropole Shanghai ein Video in den sozialen Medien, das eine Frau zeigt, die vergeblich versucht, einen Rettungswagen für einen sterbenden Nachbarn zu ergattern. Die Hilfe für den Mann, der unter einem Asthmaanfall litt, kam letztlich zu spät - er erlag seiner Krankheit. Er ist nur eines von mehreren Opfern der gerade verhängten Lockdown-Maßnahmen.

Ausgerechnet Shanghai ist mittlerweile zu Chinas Corona-Epizentrum geworden. Am Donnerstag meldeten die Behörden über 5600 Fälle. Dabei ist eine Stadthälfte seit Anfang der Woche abgeriegelt. Nur wenige Stunden hatten die Bewohner östlich des Huangpu-Flusses Zeit, um sich mit den nötigsten Lebensmittelvorräten einzudecken.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

An diesem Freitag folgt die westliche Stadthälfte. Deren Bewohner dürfen mindestens vier Tage ihre Wohnungen nicht verlassen. Dass der Lockdown dann gleich wieder aufgehoben wird, daran glauben nur die wenigsten. Gerüchte besagen, es könnte bis weit in den Mai dauern.

Für China ist es die vielleicht schwerste epidemiologische Niederlage seit dem Virusausbruch in Wuhan vor über zwei Jahren. Denn mit über 26 Millionen Einwohnern ist Shanghai nicht nur die größte Metropole des Landes, sondern auch das führende Wirtschaftszentrum der Volksrepublik: Im Stadtgebiet werden rund vier Prozent des chinesischen Bruttoinlandprodukts (BIP) generiert.

Dementsprechend sind die ökonomischen Kosten gewaltig. Ein Forscherteam der Chinesischen Universität Hongkong hat errechnet, dass sich die Folgekosten der in verschiedenen Landesteilen angeordneten Lockdowns auf satte 46 Milliarden Dollar pro Monat summieren und einen BIP-Einbruch um 3,1 Prozent zur Folge haben. Die Ökonomen betonten, hierbei handele es sich um eine konservative Schätzung; jede Verschärfung der Corona-Maßnahmen werde die Folgekosten deutlich erhöhen.

Wenig überraschend liegen wichtige konjunkturelle Frühindikatoren auf dem niedrigsten Wert seit Februar 2020. Ökonomen erwarten zwar eine Erholung im Laufe des April - aber nur, wenn das Infektionsgeschehen bis dahin unter Kontrolle ist.

Chinas Staatsführung hat derweil deutlich gemacht, dass es an seiner Nulltoleranzstrategie gegen Corona festhalten wird. Beobachter gehen davon aus, dass Peking frühestens nach dem 20. Parteikongress im Herbst eine Lockerung der Corona-Maßnahmen riskieren wird.

Derweil wächst der Frust in der Bevölkerung: In Shanghai, dessen Stadtregierung bislang vor allem durch Pragmatismus aufgefallen ist, werden nun in mindestens vier Bezirken unzählige Zivilisten zur Volksmiliz eingezogen, um beim Kampf gegen das Virus mitzumachen. So müssen die Unternehmen Mitarbeiter freistellen, damit diese etwa an Ausfallstraßen Temperatur messen oder die Logistik sicherstellen.

Auch die heimische Wirtschaft bekommt ein immenses Problem. In einer Umfrage der deutschen Handelskammer in Peking gab etwa jedes zweite Unternehmen an, dass Logistik und Lieferketten durch die Lockdowns unterbrochen wurden oder stark beeinträchtigt sind. Die Befragung wurde bereits vor dem flächendeckenden Shanghai-Lockdown durchgeführt, der die Lage noch verschärft.

Die Regierung hofft indes auf eine kurze Schockstarre: Um die Infektionsketten zu unterbrechen, werden sämtliche Infizierte in riesigen Quarantänezentren untergebracht. Derzeit wird in Shanghai eine Anlage mit 15 000 Betten fertiggestellt, es ist die größte Covid-Isolationsstation weltweit. Vor zwei Jahren wurde dies als stolze Errungenschaft im Kampf gegen die Pandemie gepriesen - heute ist bei vielen Chinesen die Angst vor der Zwangsquarantäne größer als die Angst vor dem Virus.

Auf dem Kurznachrichtendienst Wechat schildert ein Nutzer namens Qian Miao, wie er trotz nur leichter Erkältungssymptome um vier Uhr morgens in einen überfüllten Bus mit weiteren Infizierten gesteckt wurde, um dann nach elfstündiger Wartezeit in ein neu errichtetes Quarantänezentrum eingelassen zu werden. Dort seien mehrere Tausend Menschen praktisch auf sich allein gestellt: ohne warmes Wasser, medizinische Versorgung oder PCR-Tests.

Trotz solcher Zustände im medial stark beobachteten Shanghai: Im abgelegenen Nordosten ist eine ganze Provinz bereits seit über einem Monat abgeriegelt. Die Verhältnisse dort sollen äußerst prekär sein, wobei nur wenige Informationen nach außen dringen.

Unter Kontrolle ist die Lage auch dort nicht. Zuletzt wurden in Changchun, Hauptstadt der Provinz Jilin, 160 Bauarbeiter zum Errichten eines Quarantänezentrums beordert. Doch noch bei der Arbeit infizierten sich 90 von ihnen mit dem Coronavirus. Sie wurden umgehend isoliert - in der Anlage, die sie selbst gebaut haben.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.