»Mit Demut und Willen zur Avantgarde«

Kulturbewahrung bringt nichts ohne Künstler, meint die ukrainische Musikerin Melanka Piroschik aus Leipzig

  • Sarah Nägele
  • Lesedauer: 8 Min.
Melanka Piroschik – »Mit Demut und Willen zur Avantgarde«

Wie geht es Ihnen gerade?

Melanka Piroschik

Melanka Piroschik, Sängerin und Violinistin, ist in Deutschland aufgewachsen, ihre Eltern kommen aus der Westukraine. Sie singt und schreibt nur auf Ukrainisch, »wahrscheinlich weil ich damit aufgewachsen bin und es mir so nah am Herzen liegt«, wie sie sagt.

Das Gespräch fand in einem Café in Leipzig statt, ein paar Tage nachdem Melanka Piroschik bei einer Friedenskundgebung auf dem Leipziger Nikolaikirchhof ukrainische Folklore gesungen hat.

Schwer zu sagen. Ich bin wütend, weil nicht zugehört wurde, und ich habe eine Art Déjà-vu. 2013 gab es die aktuellen Demonstrationen schon einmal. Da war die Maidan-Revolution, und danach ist der Krieg in der Ostukraine losgegangen. Das wurde nicht als Krieg wahrgenommen, sondern als Konflikt oder Krise. Mein Onkel war damals für eineinhalb Jahre an der Front in der Ostukraine und deswegen hat sich das in unserer Familie nicht nur wie eine »Krise« angefühlt.

Das, was in den letzten Monaten in Russland passiert ist, lief letzten Endes wie nach Schulbuch ab. Regimekritiker*innen wurden vermehrt eingesperrt, Organisationen wie Memorial, die sich mit der Aufarbeitung von Verbrechen in der Sowjetunion beschäftigen, wurden verboten. Es wurde Alarm geschlagen, dass Truppen aufziehen an der Grenze der Ukraine. Aber es wurde nicht hingeschaut, nicht geholfen; die Ukraine wurde nicht in die EU oder die Nato aufgenommen.

Ich habe Sie bei einer Ukraine-Kundgebung am Nikolaikirchhof reden und singen gehört. Auch sonst sind Sie sehr aktiv. Wieso ist es so wichtig, ukrainische Kultur zu vermitteln?

Es gibt einen Satz, der gerade durch die sozialen Medien geht: Wenn Russland aufhört zu kämpfen, dann hört der Krieg auf - aber wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, dann hört die Ukraine auf zu existieren. Was viele Ukrainer*innen immer wollten und wollen, wofür viele schon ab 2013 bei der Maidan-Revolution und 2004 im Zuge der Orangen Revolution gekämpft haben, war, die Meinungsfreiheit zu erhalten, die wir hier in Westeuropa haben. Die Freiheit, die eigene Sprache zu sprechen, zu singen, Theater zu machen, Kunst zu machen, sich auszudrücken, wie es in Russland nicht der Fall ist.

Hilft Ihnen die Musik gerade auch beim Verarbeiten Ihrer Gefühle?

Jein. Für mich fühlt es sich oft pietätlos an, jetzt zu spielen und zu singen, während andere in diesem Krieg sind, während meine Kolleg*innen das gerade nicht können. Und trotzdem: Auf der Bühne zu stehen und zu zeigen, dass die ukrainische Kultur nicht einfach ein Ableger der russischen ist - damit fühle ich mich verbunden, wenn ich die Musik spielen und singen kann.

Gleichzeitig schnürt es mir eben auch die Kehle zu. Aber wenn es hilft, zu zeigen, dass wir nicht Frieden um jeden Preis wollen, sondern dass die ukrainische Sprache, Identität und Kultur beibehalten werden sollen, wenn es hilft, darüber aufzuklären, dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen, dann ist das gut.

Sie sind in Deutschland aufgewachsen. Aber Ihre Eltern stammen aus der Westukraine, Sie haben einen starken Bezug zur ukrainischen Kultur. Wie wurde Ihnen das vermittelt?

Ukrainisch ist meine Muttersprache, und ich hab erst im Kindergarten Deutsch gelernt. Wir sind jedes oder jedes zweite Jahr in die Ukraine gefahren. Meine Eltern haben in Lwiw, also Lemberg, in den 80er Jahren in einem sogenannten Untergrundtheater gespielt. Die Stücke, die sie aufgeführt haben, waren in der Sowjetunion teilweise verboten. Sie sind sehr gute Sänger, sehr engagiert, sehr aktivistisch, und solange ich mich erinnern kann, haben wir immer zu Hause gesungen. Ich bin mit ukrainischer Musik aufgewachsen, das mochte ich, und offenbar habe ich darauf schon als Kind reagiert.

Ich hab die Musik später wiedergefunden, und seit vielen Jahren lässt sie mich nicht mehr los. Ich hab mir meine Lehrer gesucht in der Ukraine, bin herumgefahren, habe Meisterklassen besucht. Leider nicht so viele, wie ich gewollt hätte.

Was für Meisterklassen waren das?

Für den Gesang, für ein Verständnis dieser Art von Musik. Die Lieder werden nicht nach Noten gespielt, sondern nach oraler Tradition. Dazu gehört auch, zu verstehen, woher diese Musik kommt, aus welcher Region. Wie sah die Landschaft aus? Wer waren die Menschen, die diese Musik gesungen haben?

Es gibt ein ukrainisches Volkslied, das habe ich zum ersten Mal vor sieben Jahren gehört. Ich konnte es drei Jahre lang nicht singen, obwohl ich es hundertmal gehört habe. Ich musste raus aus der Stadt, und erst nachdem ich in der Natur war, klappte es. Das klingt jetzt furchtbar esoterisch. Aber das war ein Lied über einen Wald, der ganz still ist, weil alle Vögel weggeflogen sind. Ich musste mich wirklich reinfühlen. Das ist eine eigenartige, sehr archaische Art von Musik und Lernen. Für viele klingen die Lieder auch schief. Es ist eben nicht glattgebügelt, wie wir das aus unserem hiesigen Kulturkreis kennen.

Was sind die Themen in der ukrainischen Folklore?

Es sind Rituale der Veränderung: Geburt, Tod, Heirat, Umzug, Verlobung, Festtagslieder. Es gibt sehr viele Analogien zu Tieren, zu Pflanzen, Blumen, zur Natur an sich, den Landschaften. Analogien und Metaphern zu unserem Leben.

Sie schreiben auch selbst Lieder und singen sie auf Ukrainisch. Wie kam es dazu?

Ich kann nicht auf Deutsch singen, ich weiß nicht woran es liegt. Ich habe nicht denselben Bezug dazu. Gleichzeitig weiß ich, dass ich mit dem ukrainischen Gesang nur eine Nische bedienen kann - dann muss ich vieles abseits vom Text transportieren. Meine Texte sind sehr kryptisch, auch für Ukrainer*innen. Aber irgendwas an der Sprachmelodie macht es mir schwer, mich in anderen Sprachen so auszudrücken wie in der ukrainischen. Wahrscheinlich weil ich damit aufgewachsen bin und es mir so nah am Herzen liegt.

Sie spielen momentan in einem Duo, Moloch & Nadiya.

Genau, gemeinsam mit Alexander Korus. Wir wollten ausprobieren, was wir experimentell erschaffen können. Unser Instrumentarium sind Gesang, Geige und eine E-Gitarre. Alex spielt im Bereich Jazz, RnB, Soul, und ich im Bereich Folklore - das haben wir zusammengepackt. Wir nehmen zum Beispiel als Ausgangspunkt ein ukrainisches Folklorelied. Die orale Tradition funktioniert teilweise so, dass das Taktmaß nach den Wörtern läuft. Es kann sich also ständig ändern. Man hat ein interessantes, aber repetitives Lied und muss Harmonien und eine rhythmische Begleitung dazu finden, um es in die jetzige Realität zu holen, während man den Respekt vor dem Folklorestück behält. Alles, was wir schreiben oder umarrangieren, passiert mit einer gehörigen Portion Demut und einem großen Willen zur Avantgarde.

Die Art, wie die Folklore funktioniert, klingt für mich eher nach Geschichtenerzählen.

Teilweise ist es das auch. Es wird eine Geschichte erzählt, und dann hat man dazu eben eine Melodie geschrieben und gesungen. Wenn es Noten gibt, dann sind die vereinfacht und meiner Meinung nach nicht mehr singbar. Denn mit den Noten geht dieses eine Element verloren, das man nicht erklären kann. Du musst das Lied immer wieder hören, immer wieder spüren - immer wieder mit den Füßen auf dem Boden stehen und dich dann öffnen und sagen: Ich will aber eigentlich, dass es hier in Leipzig ankommt, im Urbanen, in der Moderne. Das ist eine Gratwanderung zwischen nicht zu sehr verkomplizieren, Respekt bewahren und das zu machen, worauf wir Lust haben.

Neben dem Duo machen Sie auch allein Musik.

Ja, das geht eher in Richtung performativ-theatral. Da nehme ich wirklich Folklore-Stücke und packe sie in einen Kontext. Ich habe zum Beispiel ein Theaterstück, einen Zyklus, über Heirat und Verlobung gemacht, den ich gerade umbaue. Die Lieder bleiben dieselben, aber der Kontext ändert sich.

Die Folklore-Stücke, die ich singe, habe ich von meinen Lehrern, von Freunden, meiner Mutter oder in großen Archiven gefunden. Ein Teil der ukrainischen Volksmusik gehört zum immateriellen Unesco-Weltkulturerbe. Es ist ein Glück, dass so viel aufgenommen wurde in den letzten Jahrzehnten. Aber die Musik darf nicht nur in der Diaspora weiterleben.

Hat die Diaspora gerade eine größere Sichtbarkeit?

Natürlich. Es ist mir auch wichtig zu betonen, dass ich den Krieg nicht ausnutzen will, um mich selbst sichtbarer zu machen. Darum geht es uns allen nicht. Aber wenn etwas in den Medien ist, dann werden die Menschen, die daher kommen, oder die sich jahrelang damit beschäftigen, natürlich sichtbar. Und die Diaspora rückt gerade unglaublich zusammen. Wir haben gemerkt, dass wir sehr viele sind.

Ich lasse mich trotz der Angst, dass es missverstanden wird, oft auf Interviews ein, weil ich bei den Menschen mit Familienmitgliedern in der Ukraine merke, dass sie keine Kraft für so etwas haben. Ich bin ständig in Kontakt und spüre ihren Schmerz. Und vielleicht kann ich irgendwie erklären, was da gerade passiert. Jetzt gerade ist die Zeit für Akuthilfe, die Zeit, um Flüchtlinge aufzunehmen, Abgeordneten zu schreiben, verletzten Seelen Trost zu bieten, wenn man das kann.

Was würden Sie sich von den Menschen im Westen wünschen, wenn wir von ukrainischer Kultur sprechen?

Erst mal zu verstehen, dass die Ukraine nicht Russland ist. Aber ich habe vor Kurzem etwas in einem Podcast gehört und möchte das noch einmal betonen: All die Kulturbewahrung, all die netten Worte bringen nichts, wenn die Künstler*innen nicht mehr sind.

Es ist sehr schmerzhaft, darüber nachzudenken, was mit den Menschen passiert, die diese oralen Traditionen weitergeben, wenn wir von der Folklore sprechen. Wenn Europa nicht eingreift, dann weiß ich nicht, wie die Menschen in der Ukraine verhindern sollen, dass alles den Bach runtergeht.

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