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»Deutschland ist ein sehr traditionelles Land«
Sabine Rennefanz über die unterschiedlich bewertete Zeit von Frauen und Männern, den Umgang mit den Kindern während Corona und den schönen Schein des Homeoffice
Frau Rennefanz, Sie beziehen sich auf den ersten Seiten Ihres neuen Buches auf Margaret Thatchers neoliberalen Ausspruch »There’s no such thing as society« und konstatieren eine seit den 80er Jahren immer mehr zunehmende Vereinzelung sowie einen Konkurrenzkampf zwischen den individualisierten Menschen. Kann man also überhaupt noch von Gesellschaft sprechen oder müsste man dieses Gefüge mittlerweile anders nennen?
Doch, man kann es noch Gesellschaft nennen. Doch wohin entwickelt sie sich? Was wollen wir? Die Ampelkoalition hatte schon vor dem Krieg darauf keine Antwort, wenn man mal von der etwas bemühten Überschrift »Fortschritt« absieht. Und jetzt ist Krieg und die Pandemie wirkt klein dagegen – das ist aber ein Trugschluss. Gerade wegen des Krieges und der drohenden wirtschaftlichen Folgen wird gesellschaftlicher Zusammenhalt wichtiger denn je.
Im Kapitel »Leben wie ein Mann« schreiben Sie: »In unserer Gesellschaft wird die Zeit von Frauen und Männern unterschiedlich bewertet, die Zeit von Männern ist mehr wert.« Wie meinen Sie das?
Die Zeit von Frauen wird weniger geschätzt, sonst wäre in der Pandemie nicht automatisch erwartet worden, dass sie angesichts der geschlossenen Schulen und Kitas wieder in die Hausfrauenrolle schlüpfen. Die Frauen übernahmen die zusätzlichen Aufgaben, gratis. Weil Kümmern generell nicht als Arbeit gesehen wird, sondern als Hingabe, als Berufung, als Liebe. Dahinter stecken jahrhundertealte Rollenklischees der bürgerlichen Mutter.
Dazu kommt, dass zum Beispiel Fertigungsberufe, die vor allem von Männern ausgeübt werden, besser bezahlt sind als Pflege- und Erziehungsberufe, in denen mehr Frauen arbeiten. Quer durch alle Branchen beträgt die Lohnlücke in Deutschland 19 Prozent. Frauen leisten außerdem pro Tag 87 Minuten mehr Haus- und Familienarbeit – unbezahlt.
Können Sie erklären, durch welche Prozesse das in der Corona-Pandemie immer stärker genutzte Homeoffice Frauen bei der Gleichstellung zurückwirft?
Das Homeoffice galt vor der Pandemie als magische Lösung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nach zwei Jahren muss man sagen, das ist ein Trugbild. Homeoffice bietet Flexibilität, aber auch die große Gefahr, aus den Arbeitsprozessen und Positionen herausgedrängt zu werden. Es gibt Studien, die zeigen, dass Frauen im Homeoffice als weniger produktiv wahrgenommen werden als Männer – auch wenn sie genauso viel arbeiten. Da gibt es offenbar geschlechterspezifische Vorurteile. Und wenn man Homeoffice mit Kinderbetreuung verbindet, führt das zu Erschöpfung, Frustration und Rückzug.
Warum haben die Frauen nicht gegen diesen Rollback revoltiert?
Es gab Protestansätze, zum Beispiel in den sozialen Medien. Unter dem Hashtag #Coronaeltern sammelten sich im Frühjahr 2020 erschöpfte und verzweifelte Mütter (und einige Väter) und forderten einen Plan zur Öffnung von Kitas und Schulen. Einige schrieben Rechnungen für all die Jobs, die sie zusätzlich erledigten: Köchin, Lehrerin, Putzfrau, Gute-Laune-Animateurin. Aber eine nachhaltige Aktion gab es nicht, dazu sind die Belastungen, die sich nun über zwei Jahre hinziehen, zu groß. Im Verlauf der Pandemie wurde die Debatte komplexer, es gab kein gemeinsames Narrativ. Trotzdem war die Coronakrise eine kollektive Erfahrung: Zum ersten Mal seit langem machen Frauen aus verschiedenen Milieus und Gruppen eine gemeinsame Erfahrung, eine Erfahrung der Benachteiligung und Entwertung.
Inwiefern bringt die Coronakrise zum Vorschein, wie weit Deutschland von einer echten Gleichberechtigung entfernt ist?
Die Pandemie hat gezeigt, dass Deutschland ein sehr traditionelles Land ist, was das Geschlechterverhältnis angeht – trotz mancher Reformen. Schon vorher mussten Frauen mehr kämpfen, sie verdienten weniger, arbeiteten eher in Teilzeit, kümmerten sich mehr um Familie und Haushalt, nahmen länger Elternzeit. Sie gingen schon mit einer schlechteren Verhandlungsposition in die Krise. Als es eng wurde, sind sie diejenigen gewesen, die mehr Fürsorge und Betreuung übernommen haben – quasi automatisch.
Wie ignorant gegenüber Kindern ist unsere Gesellschaft Ihrer Meinung nach?
Kinder und Jugendliche haben in den vergangenen zwei Jahren für die ältere, mehr gefährdete Bevölkerung auf vieles verzichtet und sich solidarisch gezeigt. Doch es zieht sich wie ein roter Faden durch die Pandemie, dass sie bei politischen Entscheidungen vergessen und übersehen wurden. Wenn sie ihre Bedürfnisse äußerten, wurden sie lächerlich gemacht oder kritisiert. Schulen und Kitas wurden lange viel stärker mit Tests und Masken reglementiert als Arbeitsplätze. Ich sehe darin wirklich ein großes Problem und denke inzwischen auch, man müsste das viel radikaler angehen, indem man sich zum Beispiel dafür einsetzt, dass Kinder als Bürger behandelt werden. Und dazu bräuchten sie auch eigene Rechte, wie das Wahlrecht.
Unter dem Stichwort »Bildungsrepublik Deutschland? Von wegen!« beschreiben Sie in Ihrem Buch Schulen als Krankenhäuser. Was meinen Sie mit diesem Vergleich?
Das bezieht sich darauf, dass über Schulen lange nur mit Virologen geredet wurde, es ging um Hygienemaßnahmen, Masken, Impfungen. Bis heute sitzt im Expertenrat kein einziger Pädagoge. Der Vergleich trifft aber auch im übertragenen Sinne: Unser öffentliches Bildungssystem war schon vor Corona chronisch krank: Es ist ungerecht und vor lauter Reformen und Pisa-Angst in sich erstarrt. Wer es sich leisten kann, kauft sich heraus. Die Krise hat dann alle Unzulänglichkeiten mit großer Brutalität ausgeleuchtet: Die nicht vorhandene Digitalisierung, die veraltete Infrastruktur, der massive Mangel an Personal – und damit meine ich nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen. Und das Schlimmste ist, dass es kaum jemanden interessiert, wie es den Kindern und Jugendlichen geht, was sie brauchen. Stattdessen sollen sie vor allem »Lernstoff« nachholen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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