In Großbritannien ist für viele selbst das Kochen zu teuer

Wirtschaftskrise auf der Insel spitzt sich zu - im kommenden Jahr werden wohl weitere 1,3 Millionen Briten in Armut abstürzen

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich habe die Gastherme schon vor langer Zeit abgestellt«, erzählte eine junge Frau namens Zara am vergangenen Freitag in einer Radio-Anrufsendung. »Wir benutzen stattdessen Bettflaschen.« Fürs Frühstück reiche das Geld nicht, sagt die alleinerziehende Mutter unter Tränen, und abends esse sie, was ihre drei Kinder übrig lassen. »Mein ganzes Einkommen geht für Rechnungen drauf. Es wird jetzt richtig schlimm.«

Der Clip aus der Radiosendung ist fast 900 000 Mal angeschaut worden und hat im ganzen Land tiefe Betroffenheit ausgelöst - nicht zuletzt, weil Zara für Hunderttausende britische Familien spricht, die mit ähnlichen Problemen kämpfen: Sie haben schlichtweg nicht genügend Geld, um über die Runden zu kommen. Bald werden es noch viel mehr sein.

Am 1. April sind Strom und Gas in Großbritannien auf einen Schlag um 54 Prozent teurer geworden. Eine durchschnittliche jährliche Energierechnung wird damit um fast 700 Pfund ansteigen, auf knapp 2000 Pfund. Laut dem Thinktank Resolution Foundation wird das zur Konsequenz haben, dass sich die Zahl der Haushalte, die unter »Energiebelastung« leiden, auf fünf Millionen verdoppeln wird; diese Notlage tritt definitionsgemäß ein, wenn ein Haushalt mehr als 10 Prozent des verfügbaren Einkommens für Strom und Gas ausgibt.

Die steigenden Energiekosten machen den größten Teil bei der wachsenden Zunahme der Lebenshaltungskosten in Großbritannien aus. Aufgrund steigender Inflation - sie liegt derzeit bei 6,2 Prozent, der höchste Wert seit 40 Jahren - werden sich auch die Lebensmittel verteuern, genauso wie grundlegende Güter des täglichen Bedarfs. Wie die steigenden Energiekosten wird dies überproportional ärmere Haushalte treffen, die einen größeren Anteil ihres Einkommens für diese Produkte ausgeben. Zudem muss der Großteil der Bevölkerung im neuen Finanzjahr höhere Steuern zahlen.

Die Sozialleistungen hingegen werden um gerade einmal 3,1 Prozent angehoben. Experten schätzen, dass im kommenden Jahr zusätzliche 1,3 Millionen Britinnen und Briten in die Armut abstürzen werden. Sie werden bald die Wahl treffen müssen, ob sie lieber heizen oder essen - für beides könnte es nicht reichen.

Und künftig könnte es noch dicker kommen. Weil sich die globale Energiekrise aufgrund des Ukraine-Krieges weiter verschärft, ist zu erwarten, dass die Gas- und Strompreise im Oktober noch weiter steigen werden. Die Energie-Regulierungsbehörde Ofgem legt jedes halbe Jahr fest, wie hoch die Kosten maximal sein dürfen, die die Energieanbieter ihren Kunden verrechnen. Laut der Resolution Foundation könnten die jährlichen Kosten im Herbst auf 2500 Pfund pro Haushalt hochschnellen.

Großbritannien ist steigenden internationalen Gaspreisen besonders stark ausgesetzt, weil der Rohstoff für einen großen Teil der Energie gebraucht wird. So heizen beispielsweise etwa 85 Prozent der Haushalte mit Gasthermen.

In seinem Frühlingsstatement vor knapp zwei Wochen versprach Finanzminister Rishi Sunak Hilfe für »hart arbeitende Familien«. Aber sein Plan beschränkte sich auf einige kleinere fiskalische Anpassungen, etwa die Deckelung der Benzinsteuer oder eine Erhöhung des Steuerfreibetrags für die staatliche Sozialversicherung; einen Rabatt für die Gemeindesteuer hatte er bereits im Februar angekündigt.

Viele Kampagnen und Initiativen gegen Armut halten Sunaks Pläne für völlig unzulänglich - für jene, die am meisten von der Krise betroffen sind, biete der Finanzminister »keine Sicherheit«, sagte Dave Innes von der Stiftung Joseph Rowntree Foundation. »Sie riskieren, in die Mittellosigkeit abzurutschen.«

So sieht es auch die Mehrheit der Bevölkerung: Laut einer Umfrage gehen fast 70 Prozent der Britinnen und Briten davon aus, dass die versprochene Hilfe nicht ausreichen wird. Auch in den eigenen Reihen gerät Sunak unter Druck, mehr zu tun - es wird spekuliert, dass er in den kommenden Wochen weitere Maßnahmen ankündigen könnte, um die Armutskrise abzufedern.

Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass sich die Krise in hohem Tempo verschlimmert. Ein Ratsabgeordneter in Liverpool sagte am Wochenende gegenüber der Presse, dass die lokale Lebensmitteltafel angesichts der hohen Nachfrage mittlerweile an sechs Tagen in der Woche geöffnet ist, nicht mehr nur wie bisher an vier Tagen. Allerdings würden weniger Lebensmittel gespendet: »Die Leute, die früher gespendet haben, brauchen jetzt selbst Hilfe«, sagte der Abgeordnete. Zudem hätte die Lebensmitteltafel Mühe, frische Kartoffeln, Kohl und Lauch loszuwerden. »Die Leute sagen, es koste zu viel, diese zu kochen.«

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