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Stell dir vor, du hast Erdöl und keiner will es kaufen

Prognosen und Prophezeiungen für Saudi-Arabiens Volkswirtschaft im Zeitalter erneuerbarer Energien

  • Sigrun Matthiesen
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Todesstrafe, die Frauenrechte, die legalen Steinigungen und Auspeitschungen, die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte, der Waffenhandel, die Meinungsfreiheit – es gibt so einiges, was in Saudi-Arabien Grund und Anlass zur Sorge geben könnte. Der Staatshaushalt und die Wirtschaft des absolutistisch regierten Königtums allerdings gehörten bislang eher nicht dazu. Genau das aber könnte sich ganz schnell ändern, wenn die Welt jetzt wirklich Ernst macht mit der Abkehr von fossilen Brennstoffen. Dann nämlich verliert Saudi-Arabien seine Haupteinnahmequelle – und zwar in viel kürzerer Zeit als bislang angenommen. Was dieses Szenario für die Volkswirtschaft des Königtums bedeuten könnte, haben die Ökonomen Ulrich Blum und Jiarui Zhong in einer kürzlich in der Zeitschrift »Intereconomics« veröffentlichten Studie untersucht.

Bislang trägt der Öl-Sektor mit 40 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, das im Jahr 2019 kaufkraftbereinigt bei erfreulichen 1,7 Billionen US-Dollar lag. Auf dem weltweiten Markt für Benzin und andere Flüssigkraftstoffe war Saudi-Arabien bis ungefähr 2010 führend, mit einer Tagesproduktion von knapp 10 Milliarden Barrel. Doch seitdem haben die USA ihre Fracking-Aktivitäten massiv ausgebaut und produzierten mittlerweile fast die doppelte Menge – allerdings verbrauchen sie den größten Teil davon auch selbst. In Saudi-Arabien dagegen fehlt es weiterhin, obwohl sogar Frauen seit 2018 Auto fahren dürfen, an Verbrauchsmöglichkeiten für derartige Mengen fossiler Brennstoffe. Immer noch, obwohl das Land seine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Öl-Sektor in den vergangenen 50 Jahren schon deutlich reduziert hat: 1970 machte er 80 Prozent des BIP aus.

OXI - Wirtschaft anders denken

Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd.DieWoche« beiliegt. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Schwerpunkt Rohstoffe.

Natürlich kommt die ungeheure Warenansammlung nicht ohne Rohstoffe aus. Selbst die in Binärcodes versteckte Datenware bedarf einer feststofflichen Grundlage in Gestalt digitaler Endgeräte, die wiederum mit Strom betrieben werden, der im besten Fall ein Windrad oder Solarpanel braucht. In der Logik der Sache liegt, dass der Rohstoffhunger eines ausschließlich auf Wachstum setzenden Wirtschaftssystems ebenso stetig wachsen muss. Wo führt uns das hin? Und warum können wir nicht endlos so weitermachen, wie bisher?

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Dennoch, so die beiden Ökonomen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sei Saudi-Arabien noch immer ein Land, das seine Ressourcen eintausche gegen Produkte, in deren Herstellung viel Kapital, Arbeit oder Wissen fließe – möglicherweise auch alles gleichzeitig. Wer solche Industrien betreibt, ist im Rahmen der von Ulrich Blum und Jiarui Zhong nicht hinterfragten herrschenden Verhältnisse immer in der profitträchtigeren und damit vorteilhafteren Position in der globalen Wertschöpfungskette.

Dennoch, für den Import von Maschinen, Fahrzeugen, Gemüse, Textilien und was wohlhabende Menschen eben sonst noch so alles brauchen können, gab das Königreich 2018 mit insgesamt 117 Milliarden US-Dollar nur halb so viel aus, wie es mittels seiner Rohstoffexporte einnahm. Noch viel rosiger war die Bilanz demzufolge in früheren Jahren, als die Erdöl-Einnahmen noch sehr viel höher lagen. Damals, so denkt sich die Ökonomie-Amateurin, wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, mit den Petro-Dollars in dem großen leeren Land ein paar Fabriken aufzubauen und fürderhin Handtaschen, Handys, Hybridautos und andere profitträchtige Hardware selber herzustellen. So sehen das auch die Profis. Theoretisch, so schreiben es Ulrich Blum und Jiarui Zhong, seien »Zwangsinvestitionen in wirtschaftliche Modernisierung« für rohstoffreiche Staaten die effizienteste Strategie, mit Einnahmen-Überschüssen umzugehen. Als Beispiel für einen derartigen Versuch führen sie eine andere Diktatur an, nämlich die von Schah Reza Pahlavi in den 1960er und 1970er Jahren. »Er scheiterte an der inländischen Opposition, hinterließ den Mullahs aber eine fantastische Infrastruktur.« Handelsembargos, Importzölle und andere Maßnahmen, mit denen bestehende Exportweltmeister von Maschinen und Konsumgütern für gewöhnlich auf neue Konkurrenten reagieren, werden im Rahmen der Studie nicht behandelt.

Als zweite, ökonomisch weniger effiziente Vorsorge-Möglichkeit benennt sie die Anlage der Rohstoff-Erlöse auf dem internationalen Geldmarkt – Beispiel Norwegen. Dritte und volkswirtschaftlich schlechteste Möglichkeit seien Ausgaben zugunsten der einheimischen Bevölkerung in Form von Sozialleistungen. Dann nämlich steigen Löhne und Preise, weswegen das Land im internationalen Wettbewerb zurückfällt. Als abschreckendes Beispiel werden hier die Niederlande angeführt oder auch die ostdeutschen Bundesländer aufgrund der »Stabilisierungs-Transfers aus Westdeutschland nach der Vereinigung«.
Auch in Saudi-Arabien hat die herrschende Königsfamilie in den Jahren des Öl-Booms ihre Untertanen gut mit Sozialleistungen und Infrastruktur versorgt, was zu hohen Lohnkosten führte, die zusammen mit dem hohen Wechselkurs des Saudi-Riyal die Industrialisierung behindert habe, so Ulrich Blum und Jiarui Zhong.

Das zwischen 1990 und 2014 dennoch ein jährlicher Zuwachs der Industrialisierungsintensität von 9,35 Prozent erzielt werden konnte, war vorrangig schlecht bezahlten migrantischen Arbeiter:innen zu verdanken, die rund zwei Drittel der Arbeitskräfte ausmachen. Von den Einheimischen, die überhaupt arbeiten müssen, sind, so Wikipedia, 67 Prozent im öffentlichen Dienst beschäftigt. Gleichzeitig legte das Land hohe Summen auf den internationalen Kapitalmärkten an. Diese wirtschaftspolitischen Strategien, zuletzt 2016 in einem Papier namens »Saudi Vision 2030« noch einmal aktualisiert, waren allerdings immer von einem relativ langsamen Transformationstempo aufgrund schwindender Ölvorkommnisse und veränderter Konkurrenzverhältnisse auf dem internationalen Markt für fossile Brennstoffe ausgegangen. Die schnell wachsende Bedeutung erneuerbarer Energien könnte nun dazu führen, dass der Ölpreis unter 45 US-Dollar pro Barrel fällt, was laut Berechnungen des Internationalen Währungsfonds 2020 der Durchschnittspreis war, mit dem Saudi-Arabiens Haushaltsstabilität gewährleistet werden konnte. Andere Berechnungen gehen davon aus, dass ein 30-prozentiger Fall der Ölpreise eine 15-prozentige Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts zur Folge haben würde.

Entsprechend könnten die saudischen Kapitalreserven auf den internationalen Finanzmärkten weit schneller abgeschmolzen werden als bisher angenommen und auch den Wechselkurs des Riyal unter Druck bringen. Da dank der globalen »Energiewende« auch andere ölexportierende Länder mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen gleichzeitig in diese Situation geraten würden, sehen Ulrich Blum und Jiarui Zhong gar die Stabilität des weltweiten Finanzsystems gefährdet. Das sei tunlichst zu vermeiden, weshalb sie Saudi-Arabien zukünftig die Wasserstoff-Ökonomie empfehlen. Begonnen werden könne mit blauem, also durch fossile Brennstoffe gewonnenem Wasserstoff, um dann überzugehen zu einer Produktion mittels Solar- und Windkraft. Parallel wäre eine neue »Karbon-Kultur« zu entwickeln, bei der auch Methan eine wichtige Rolle spielen würde. Dank der damit verbundenen »High-end«-Forschung und -Technologie ergäbe sich quasi automatisch der Anschluss an einen neuen wirtschaftlichen Innovationszyklus.

Anders formuliert: Einmal Rohstofflieferant, immer Rohstofflieferant – von dieser Regel der globalen Arbeitsteilung gibt es selbst für einen mächtigen König in einem reichen Land keine Ausnahme.

Blum, Ulrich/Zhong, Jiarui: »The Loss of Raw Material Criticality: Implications of the Collapse of Saudi Arabian Oil Exports«, in: Intereconomics, Hamburg 2021

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