- Politik
- Sri Lanka
Sri Lanka am Abgrund
Die Regierung in Colombo gerät zunehmend unter Druck der revoltierenden Massen in allen Landesteilen
Massenproteste landesweit: Das Geschwisterpaar an der Regierung des Inselstaates im Indischen Ozean gerät immer stärker und auch persönlich ins Visier aufgebrachter und verzweifelter Einwohner, die unter der Wirtschaftskrise leiden.
Seit einigen Tagen ist Sri Lankas zugespitzte wirtschaftliche Krise auch zu einer politischen geworden. Für Präsident Gotabaya Rajapaksa und seine Verwandten, die die Regierung bisher familienintern kontrollierten, wird die Luft immer dünner. Der Inselstaat südlich von Indien, 22 Millionen Einwohner, hat in seiner Vergangenheit so manche schwere Zeit durchgemacht.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Am 21. April jährt sich der düstere Tag zum dritten Mal, als am Ostersonntag 2019 in drei Nobelhotels der Hauptstadt Colombo sowie drei Kirchen Sprengsätze detonierten. Die acht Selbstmordattentäter gehörten zur davor kaum bekannten radikalislamischen Gruppe National Thowheeth Jamaat (NTJ), verbündet mit dem IS-Terrornetzwerk. Die Bluttat sorgte für neue Feindseligkeiten und Misstrauen gegenüber der muslimischen Minderheit, die rund zehn Prozent ausmacht. Noch tiefer sind die bis heute teils nur oberflächlich vernarbten Wunden, die einst der Bürgerkrieg gerissen hat. Ab 1983 kämpfte die Rebellenbewegung Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) in einem ein Vierteljahrhundert andauernden Bürgerkrieg für einen eigenen Tamilenstaat im Norden und Osten Sri Lankas. Erst im Mai 2009 wurde die LTTE mit einer brutalen Militäroffensive besiegt. Der Konflikt mit der tamilischen Minderheit, die etwa zwölf Prozent der Einwohner ausmacht, kostete an die 100 000 Menschen das Leben und sorgte für viele Zerstörungen.
Selbst in den schlimmsten Phasen dieser Auseinandersetzungen lag Sri Lanka aber wirtschaftlich nicht so am Boden wie in den vergangenen Monaten. Es ist die schlimmste ökonomische Krise seit der Unabhängigkeit 1948, sind sich die Experten einig. Menschenschlangen bilden sich vor Tankstellen, in denen kaum ein Tropfen Benzin mehr zu haben ist; in den Geschäften sind viele Produkte des täglichen Bedarfs für normale Bürger längst unbezahlbar geworden – so sie überhaupt noch erhältlich sind. Die Inflation erreichte im März mit 18,7 Prozent einen neuen Rekordwert, bei vielen Nahrungsgütern liegen die Teuerungsraten sogar bei 30 Prozent. Viele Betriebe können kaum noch produzieren, in den Krankenhäusern gehen auch lebenswichtige Medikamente aus. Über Monate sind die letzten Devisenreserven des Staates auf ein Minimum zusammengeschmolzen; damit wird vor allem der Schuldendienst bedient, allein 6,9 Milliarden Dollar für das Jahr 2022.
Die Preisexplosionen und Engpässe treffen die singhalesisch-buddhistische Bevölkerungsmehrheit ebenso wie Muslime, Christen und Tamilen gleichermaßen. Indien hat gerade im Rahmen eines neuen bilateralen Kredits von einer Milliarde Dollar mehrere Schiffsladungen Reis und Kraftstoff geliefert, kann aber die katastrophale Versorgungslage, bei der selbst Papier für die Schulprüfungen fehlt, kaum spürbar verbessern. Und es sind schon regelrechte Hunger-Proteste, die am letzten Märztag eskalierten, als regierungskritische Demonstrierende und Sicherheitskräfte vor der Privatresidenz des Präsidenten gewaltsam aneinandergerieten. Reporter wurden an freier Berichterstattung gehindert.
Der danach von Staatschef Gotabaya Rajapaksa verhängte Notstand wurde am 5. April wieder aufgehoben. Doch die Proteste weiteten sich von Colombo über die ganze Insel aus. Zuletzt fanden landesweit mehr als 100 Demonstrationen und Kundgebungen statt. Der versuchte Befreiungsschlag durch einen Rücktritt des gesamten Kabinetts am Dienstag vergangener Woche funktionierte nicht, zumal mit der Regierungsneubildung teilweise nur Namen und Posten getauscht wurden. Inzwischen haben der Präsident und sein älterer Bruder Mahinda Rajapaksa als Premier auch ihre vorher sehr solide parlamentarische Mehrheit verloren, weil mindestens 41 Abgeordnete der eigenen SLPP und von Koalitionspartnern sich von ihnen abgewendet haben. Gotabaya, im November 2019 gewählt, verweigert sich bisher aber konsequent einem Rücktritt, obwohl zuletzt immer deutlicher seine Ablösung und eine Entmachtung des bis dato alle Entscheidungen dominierenden Rajapaksa-Clans gefordert werden. Der Sri Lanka Medical Council (SLMC) sandte am Donnerstag ebenso einen Brandbrief an den Staatschef wie die Bischöfe der Church of Ceylon.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.