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- Jürgen Reents
Ein listiger Linker
Der langjährige nd-Chefredakteur und frühere Grünen-Politiker Jürgen Reents ist gestorben
Es war im März 1999, am Rande eines PDS-Parteitags, als Jürgen Reents durch den Presseraum schlenderte, wo die Berichterstatter saßen. Wie beiläufig hielt er am ND-Tisch inne, setzte sich dann und zog uns – mich und einen Kollegen – ins Gespräch. Wir kannten uns; Jürgen war seit Anfang der 90er Jahre Pressesprecher der PDS-Gruppe und dann der PDS-Fraktion im Bundestag. Das »ND« stand gerade ohne Chefredakteur da; der bis vor Kurzem amtierende hatte im Streit mit dem Geschäftsführer die Zeitung verlassen, und nun suchte die PDS, damals noch hundertprozentige Eigentümerin der Zeitung, einen Nachfolger. Man habe ihn, erklärte uns Jürgen, zum Chef einer Findungskommission berufen, und es interessiere ihn, wie die Belegschaft sich einen neuen Chef vorstelle, welche Erwartungen sie habe, wie überhaupt die Debatten dazu verliefen.
Wir erzählten ihm, was er wissen wollte, arglos und ohne Hintergedanken. Ein paar Wochen später war Jürgen der neue Chefredakteur. Er hat das später bestritten, aber ich glaube, er wusste schon bei unserem Gespräch in Suhl, dass er den Job übernehmen soll, und wollte sich in eigener Sache vergewissern, was da auf ihn zukommt. So gelangte Jürgen zum »ND«, mit einer – wie ich jedenfalls immer noch glaube – kleinen List. Wir merkten im Laufe der Zeit, dass er ein kluger, aufrechter, humorvoller und – wenn es sein musste – eben auch ein listiger Linker war.
Wie viel Zeit sich Jürgen für seinen Lebensabschnitt beim »Neuen Deutschland« zubilligte, das in seiner Ära zum »neuen deutschland« wurde, weiß ich nicht. Er fand irgendwann, dass die Kleinschreibung einer Zeitung besser zu Gesicht stünde, die sich längst von der Zentralorgan-Vergangenheit abgenabelt hatte und streitbar, aber nicht besserwisserisch sein sollte. Schließlich wurden es rund 13 Jahre, die er an der Spitze der Zeitung stand. Er hat das genau ausgerechnet, auf den Tag, mit einem kleinen selbst geschriebenen Computerprogramm. Heute würde man das App nennen. Schließlich hatte er mal Mathematik studiert; ein Faible für Zahlen blieb ihm lebenslang. An jenem Tag, an dem er den bis dahin längstgedienten Chefredakteur der ND-Geschichte, Hermann Axen, überholte, brachte er französischen Rotwein, Baguettes und Käse mit, um das ein wenig zu feiern.
Das »ND« wurde eine Herausforderung für Jürgen. Und ein Abenteuer. Hier eine damals noch sehr DDR-bezogene Redaktion, denn viele der damaligen Kolleginnen und Kollegen hatten schon – teils sehr lange – vor 1989 beim »nd« angefangen. Und da der neue Chef aus dem Westen, aus Bremerhaven, später Hamburg, auch ein Linker, aber aus einer ganz anderen Tradition kommend. Er hatte zwar Marx gelesen wie die Ex-DDR-Kollegen, kannte aber andere Zitate als sie. Wir kannten seine politischen Stationen beim Kommunistischen Bund, bei den Grünen, wo er zum linken Flügel gehörte, seine Tätigkeit für die Zeitschrift »Arbeiterkampf«, seinen Wechsel zur PDS nach der deutschen Vereinigung, wussten aber nicht viel über die Kämpfe der Linken in der alten Bundesrepublik.
Es war zunächst ein beiderseitiges Fremdeln, auch ein gewissen Abtasten. Aber letztlich – ich kann es jedenfalls für mich sagen – hatte Willy Brandt zumindest an dieser Stelle recht: Hier wuchs in der Tat allmählich etwas zusammen, was zusammengehört.
Jürgen hat einmal sehr schön und prägnant das Selbstverständnis, die Haltung des »nd« formuliert: Diese Zeitung schreibe »nicht über Krieg, sondern gegen Krieg; nicht über soziale Ungerechtigkeit, sondern dagegen; nicht über die Benachteiligung der Ostdeutschen im Vereinigungsprozess, sondern dagegen«. Als eine CDU-Ministerin die sozialistische Tageszeitung als linksextremistisch einstufte, setzte er eine Titelseite mit der Schlagzeile »Linksextremisten« ins Blatt, auf der er sich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vermummt abbilden ließ. Als der Bundestag den Abriss des Palastes der Republik beschloss, weil er ein Diktatursymbol sei, entwarf Jürgen eine Titelseite, auf der ganz andere Diktatursymbole zum Abriss ausgeschrieben wurden: Berliner Gebäude, die in der NS-Zeit eine zentrale Rolle spielten.
Auch das war eine Konstante in Jürgens politischem Leben. Die Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft und ihren weitreichenden ideologischen Folgen, die, »wenn sie ernsthaft und nicht nur aus kühlem Geschichtsinteresse geführt wird, allerdings auch thematisieren würde, inwieweit der Faschismus in diesem Land tatsächlich verarbeitet ist«. Das sagte der Grünen-Abgeordnete Jürgen Reents 1985 im Bundestag, zum 40. Jahrestag der Befreiung, und das war seine Haltung auch später, beim »nd«.
Ich habe von Jürgen einiges gelernt. Seine Hartnäckigkeit in Konflikten; seine Fähigkeit, in Diskussionen die eigene Haltung auf den Punkt zu bringen. Man merkte ihm den Debatten-, den Politprofi an. Nach der Gründung der Linkspartei, als einige Neufunktionäre, aus westdeutschen SPD- und Gewerkschaftskreisen stammend, sich vereinnahmend dem vermeintlichen Eigentum »ND« zuwandten, ließ Jürgen sich nicht auf der Nase herumtanzen.
Dass die Zeitung bis hierher, ins Jahr 2022, gekommen ist, dass sie die Chance hat, sich weiter zu verändern und zu entwickeln – das hat sie auch der Arbeit von Jürgen Reents zu verdanken. Wenngleich heute nicht mehr allzu viele Leute in Redaktion und Verlag angestellt sind, die ihn hier noch persönlich erlebt haben. Kaum jemand weiß noch, wie gern er Boule spielte. Welch skurrile Ansichtskarten er aus seinen Frankreich-Urlauben an die Redaktion schickte. Ironische Randglossen, die zeigten, wie sehr ihm die Zeitung im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen war. Überhaupt sammelte und verschickte er Ansichtskarten mit Zeitungsmotiven. Er hatte ein ganzes Album voll davon.
Als Jürgen das »nd« verließ, um glücklicher Rentner zu werden, freute er sich auf Boule-Nachmittage, auf Ausflüge nach Travemünde und vieles mehr. Das Leben gönnte ihm diese Freuden nicht sehr lange. Er erkrankte, hatte Schmerzen, die Ärzte rätselten eine Weile, bis sie die – man muss es so sagen – vernichtende Diagnose stellten: ALS. Eine heimtückische Nervenerkrankung, die zu fortschreitender Muskellähmung führt, unaufhaltsam, unheilbar. Drei Jahre quälte er sich damit, versuchte, dem Leben mit stoischer Gelassenheit und der irgend möglichen Selbstironie das Bestmögliche abzugewinnen. Bei meinen gelegentlichen Besuchen, zuletzt im Pflegeheim, sprachen wir über die Erkrankung, über die Zeitung, über Politik. Der Geist war wach, der Körper versagte zunehmend den Dienst. Schon frühzeitig hatte Jürgen darüber nachgedacht, selbst den Schlusspunkt zu setzen.
Auf meine jüngste Anfrage, wann wir uns wieder sehen könnten, antwortete er nicht mehr. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland nicht erlaubt; Jürgen hörte irgendwann auf, Nahrung zu sich zu nehmen. Medikamente linderten die Schmerzen. Am Donnerstagabend ist er gestorben, 72 Jahre alt. Schon seit Tagen war er nicht mehr aufgewacht. Seinen Körper hat er der Berliner Charité gespendet. Die Leiden, die seine Krankheit unweigerlich mit sich bringt, wollte er sich nicht bis zum bitteren Ende zumuten. Sein Leben hat er selbstbestimmt und selbstbewusst beendet; auch und gerade vom Tod wollte er sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Mach’s gut, alter Freund!
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