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Krieg, live in den sozialen Medien
Auf TikTok ist zu sehen, wie Kriegsvideos ernsthafte Dokumente und gleichzeitig unfassbar erfolgreiche Internet-Witze sein können
Die ukrainische TikTok-Nutzerin und Modefotografin Valeria Shashenok nahm kurz nach Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine den »Che La Luna«-Videotrend auf – und ging prompt viral. Eine Heizpistole als Föhn zweckentfremden, schnell durch die zerbombte Stadt laufen, um noch etwas aus der Wohnung zu holen, der Mutter beim Bunker-Essen zubereiten zuschauen: Ihren Clip »My typical day in a Bomb Shelter« (Mein typischer Alltag in einem Luftschutzbunker) haben bis heute fast 50 Millionen Menschen weltweit gesehen.
Mittlerweile folgen ihr über eine Million Menschen bei TikTok, einem sozialen Medium aus China, wo meist kurze Videoclips geteilt werden. Die Inkongruenz zwischen Kriegs-»Alltag«, beschwingter Pop-Musik und der Fähigkeit der jungen Videokünstlerin, mit Humor als Bewältigungsstrategie ihren Alltag und die düstere Realität des Krieges festzuhalten, fesselt das Internet-Publikum. Die bittere Ironie, mit der sie ihre Videos produziert, durchzieht dabei ihr eigenes Leben: Mittlerweile ist sie mit ihrer Familie nach Italien geflüchtet – dort ist »Che La Luna« nicht nur als TikTok-Hymne bekannt.
Können Kriegsvideos jedoch ernsthafte Dokumente und gleichzeitig unfassbar erfolgreiche Internet-Witze sein? Content-Kreateur*innen wie Shashenok zeigen, dass beides zeitgleich tatsächlich möglich ist. Die 17 Jahre alte TikTokerin Liza Lysova sorgte mit einem TikTok-Tanz, zu dem sie lapidar performt »Wenn du um fünf Uhr morgens zum Krach von Explosionen aufwachst und realisierst, dass Russland der Ukraine den Krieg erklärt hat« für Millionenklicks. Die Leichtfüßigkeit dieser Art von Content scheint dabei auch bewusst gewählt: Die ukrainische Youtuberin Olga Reznikova, die zwei kleine Kinder hat, streamt auch nach ihrer Flucht nach Polen weiterhin ihren Alltag – schließlich hört dieser weder im Krieg, noch nach der Flucht auf. Wenn gekocht wird, läuft im Hintergrund der Fernseher mit den Nachrichten, die Schreckensmeldungen aus der Heimat bereithalten. Ganz »normal« also.
Der erste Impuls wäre wahrscheinlich, darüber zu streiten, ob die ästhetischen Normen der sozialen Medien nun tatsächlich eine neue Art des Bürgerkriegsjournalismus geformt haben – oder ob es sich nur um eine Einladung zum Berieseln lassen und Weiterklicken handelt. Tatsächlich aber ist es diese Art der Berichterstattung, die sehr gründlich das breite kollektive Bewusstsein erreicht hat. Vor allem aber haben Videos auf TikTok und Co. die allerersten und direktesten Einblicke zur russischen Invasion gegeben.
Smartphones können Ereignisse in Echtzeit erfassen und direkt streamen, soziale Plattformen haben sich immer mehr auf Multimedia (und insbesondere Videos) ausgerichtet, und Nutzer*innen sind mittlerweile so versiert, dass sie selbst kleine Clips so zurechtschneiden und bearbeiten können, die schnell konsumierbar sind. Der Krieg ist längst Content geworden – auf allen Kanälen der sozialen Netzwerke.
Da die vom Krieg betroffenen Ukrainer*innen selbst kuratieren, welche Aspekte ihres Alltags sie zeigen wollen und sich dabei Codes bedienen, die andere Webnutzer*innen weltweit kennen - sei es in Bezug auf Musikwahl, Schnitttechnik oder Videostil - schaffen sie eine Intimität und Unmittelbarkeit, die dem klassischen Kriegsjournalismus mit seinen teilweise voyeuristischen und pathetischen Zügen oft abhandenkommt.
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Dennoch: Es besteht natürlich die Gefahr, sich von intimen und oft auch sehr authentisch erscheinenden Videos in die Irre führen zu lassen. Das Verbreiten von Falschinformationen ist nämlich ebenfalls auf sozialen Netzwerken wie TikTok, Instagram und Co. äußerst einfach und weit verbreitet. Dazu gehören auch irreführende Informationen über den Krieg in der Ukraine. Laut einer Untersuchung, die der ehemalige Herausgeber des Wall Streets Journals Gordon Crovitz mit Datenanalyst*innen vorgelegt hat, wurde festgestellt, dass den Nutzer*innen im großen Stil sowohl »pro-russische als auch pro-ukrainische Unwahrheiten« auf TikTok präsentiert würden. Das Unternehmen selbst tut bisher eher wenig gegen gezielte Desinformation, was wiederum zeigt: Ein soziales Netzwerk ist nach wie vor keine offizielle Pressestelle. Für einen Einblick in verschiedene Kriegsalltagswelten mögen die Clips genügen. Klassische Nachrichten ersetzen sie nicht.
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