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»Ein starker Staat«
Ökonom Gabriel Zucman über die neue Ideologie der US-Politik, die wachsende Popularität von Reichensteuern und nötige Reformen für Deutschland
In Deutschland umgehen Regierungen gerne das Thema Vermögensteuer. US-Präsident Joe Biden dagegen hat gerade einen neuen Anlauf für eine Mindestbesteuerung von Superreichen und eine höhere Unternehmensbesteuerung gestartet. Welche Chancen hat der Plan?
Gabriel Zucman (35) ist ein französischer Wirtschaftswissenschaftler, er lehrt an der University of California, Berkeley, und gilt als einer der renommiertesten Ungleichheitsforscher. 2014 erschien seine Untersuchung über Steuerparadiese auf Deutsch (»Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird«, Suhrkamp).
Zucman schrieb wissenschaftliche Artikel mit dem Ökonomen Thomas Piketty und ist wie Piketty Ko-Direktor der World Inequality Database (WID). Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2020 beriet er die Demokraten Bernie Sanders und Elizabeth Warren. Der Ökonom ist Leiter der Europäischen Beobachtungsstelle für Steuerfragen. Mit ihm sprach Stefan Liebich, Fellow bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Es gibt es viel Lobbying und finanzstarke Interessen im Kongress und innerhalb der Demokratischen Partei - das ist jetzt das größte Hindernis. Aber Bidens Vorschlag zeigt, wie sich die Zeiten geändert haben.
Haben sie?
Vor nicht allzu langer Zeit wurde die Idee einer Vermögenssteuer nicht mal als diskussionswürdig angesehen, 2020 war sie bereits Teil des Wahlkampfes. Letztes Jahr hat der Vorsitzende des Finanzauschusses des Senats, Ron Wyden, eine Einmal-Milliardärs-Vermögenssteuer auf Pandemiegewinne vorgeschlagen, die der Schwelle zur Verabschiedung sehr nahe kam. Sie hätte unrealisierte Aktiengewinne sofort besteuert, ein Äquivalent zu einer 20-prozentigen Vermögenssteuer für die Top-Milliardäre. Es gab kein formale Abstimmung, aber vermutlich fehlte nur eine Stimme. Ein Mindestlohn von 15 Euro galt vor einigen Jahren noch als verrückte Idee, heute ist er Mainstream. Dasselbe gilt für die Idee einer staatlichen universalen Krankenversicherung, für Medicare For All. Auch wenn sie sich die Popularität von Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez in Umfragen angucken, sehen sie, wie viel sich bewegt hat seit den 90er Jahren.
Viele Linke sind trotzdem frustriert. Sie hatten hohe Erwartungen an Biden, und dann wurden viele Projekte von den beiden konservativen Demokraten-Senatoren Joe Manchin und Kyrsten Sinema blockiert. Sie sagen: »Am Ende passiert nichts.«
Beides stimmt. Die Ideologie hat sich geändert, aber sie wird noch nicht in praktische Politik übersetzt. Wenn die Biden-Präsidentschaft morgen enden würde, wäre ihr Nettoergebnis, was einen grundsätzlichen Politikwechsel angeht, null. Die politische Reaktion auf die Pandemie war gut, aber das war nur vorübergehend. Und vermutlich endet die Biden-Präsidentschaft schon bald, weil die Wahrscheinlichkeit gerade sehr groß ist, dass die Demokraten bei den Zwischenwahlen ihre Mehrheit im Senat verlieren. Aber nichts ist in Stein gemeißelt.
Aus europäischer Perspektive sind die USA ein Land, das die Reichen bevorzugt und in dem Freiheit vor allem Freiheit für das Kapital bedeutet ...
Die Leute haben vergessen, was vor der Präsidentschaft Ronald Reagans war. In den 50er Jahren zwischen Roosevelt und Reagan hatten die USA das vermutlich progressivste Steuersystem der Welt mit Einkommenssteuersätzen von bis zu 90 Prozent für die Topverdiener. Roosevelt hat mal 1941 in einer Rede vor dem US-Kongress erklärt: Kein Amerikaner sollte nach dem Zahlen seiner Steuern ein Einkommen von mehr als 25 000 Dollar haben. Das würde heute einem Einkommen von einer Million Dollar entsprechen. Roosevelt forderte eine Steuerrate von 100 Prozent bei Einkommen über 25 000 Dollar. Ganz so weit ist man dann nicht gegangen, man hat sich auf 93 Prozent geeinigt. Das galt bis in die Kennedy-Ära in den 60er Jahren und sie wurde dann etwas gesenkt, aber zu Beginn der 80er Jahre lag die Steuerrate für Topverdiener immer noch bei 70 Prozent. Das war damals die höchste unter den Industrieländern. Doch 1986 lag der Spitzensteuersatz in den USA plötzlich nur noch bei 28 Prozent, niedriger als in allen anderen Industrienationen.
Begründet wurde die Absenkung damals damit, dass die Reichen angesichts der hohen Steuersätze Steuervermeidung betrieben. Besser seien daher niedrige Sätze, die auch bezahlt würden.
Tatsächlich hatte vor 1986 die Steuervermeidung immer weiter um sich gegriffen. Aber das geschah ja nicht einfach so, sondern weil die Regierung sich entschieden hatte, das Gesetz in einer bestimmten Art und Weise auszulegen. Eine der ersten Handlungen von Reagan nach dem Einzug in das Weiße Haus 1981 war eine Reform der Einkommenssteuer, die jede Menge Schlupflöcher enthielt. Fünf Jahre später dann konnte er erklären: »Das Einkommenssteuersystem funktioniert nicht mehr.« Und dann haben 97 von 100 Senatoren für seine Steuerreform gestimmt, auch Joe Biden, Ted Kennedy, Al Gore und das gesamte Establishment der Demokratischen Partei.
Bei den Unternehmenssteuern war die Entwicklung ähnlich.
Das Argument war: »Wir leben in einer globalisierten Welt, Länder konkurrieren darum, Unternehmen anzuziehen, wir können uns nur dieser Realität anpassen und die Steuersätze senken.« Doch das ist falsch. Man entscheidet sich, Steuervermeidung zu akzeptieren, aber man kann auch entscheiden, sich dem zu verweigern. Heute gibt es mit der Einigung auf eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent einen vorläufigen und sehr moderaten Schritt in Richtung mehr globale Kooperation. 15 Prozent sind sehr wenig. Aber es zeigt, dass Steuerwettbewerb nach unten kein Sachzwang ist, sondern eine politische Entscheidung.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde auch in Europa gerne argumentiert: Besser wir erlassen den Reichen Steuern, dann finanzieren sie mit ihren Gewinnen ein Wachstum, von dem auch die Ärmeren profitieren. Der Reichtum würde auf diese Weise quasi nach unten tröpfeln - der »Trickle-Down-Effekt«. Heute sagt Biden, der damals für Steuersenkungen stimmte, Trickle-Down habe »niemals funktioniert«. Was ist geschehen?
Die Zeiten ändern sich. 1986 konnte man noch sagen »Vielleicht wird Trickle-Down funktionieren, vielleicht wird es mehr Innovation und mehr Wirtschaftswachstum bringen und die Gesellschaft profitiert.« Aber heute haben wir Daten aus 40 Jahren, um das zu prüfen. Ist das Wirtschaftswachstum gestiegen? Nein! Von 1946 bis 1980 sind die Durchschnittsgehälter 2,4 Prozent pro Jahr gewachsen. Von 1980 bis 2020 nur jährlich 1,4 Prozent und damit viel weniger als in den Nachkriegsjahrzehnten, in denen es viel mehr Regulierung von Unternehmen und höhere Steuern für sie gab. Noch wichtiger aber ist, dass die Wachstumsgewinne damals relativ gleich verteilt waren, die Einkommen stiegen mit dem Wirtschaftswachstum. Doch seit 1980 ist die untere Hälfte der US-Bevölkerung vom Wirtschaftswachstum ausgeschlossen. Für die Mittelschicht gab es moderateste Wachstumsraten von einem Prozent. Das reichste ein Prozent dagegen wurde deutlich reicher. Dies alles zusammengenommen ist es heute sehr schwierig zu behaupten, die in den 80ern begonnene Steuerpolitik sei ein großer Erfolg gewesen.
Ist das tatsächlich eine verbreitete Einstellung der Biden-Regierung, die in Steuerfragen ja global Maßstäbe setzt?
Die Demokratische Partei hat sich stark verändert in den letzten zehn bis 15 Jahren. Die Ideologie unter Biden jetzt ist nicht dieselbe wie unter Barack Obama oder Bill Clinton. Wenn sie sich Videos von der Wiederwahlkampagne von Clinton aus dem Jahr 1996 anschauen, da geht es nur um Deregulierung, Steuersenkungen, Freihandelsabkommen und darum, dass die Regierung »zu groß« sei. Auch gegenüber Obama haben sich die Dinge geändert - vergleichen Sie die begrenzte Antwort seiner Regierung auf die Finanzkrise 2008/2009 mit der massiven Staatsintervention als Reaktion auf die Corona-Pandemie. Natürlich gibt es immer noch viele Probleme, nur weil die Ideologie heute eine andere ist, heißt das nicht, dass sich auch die Politik geändert hat, zumindest nicht gleich stark. Das Problem Nummer Eins sind heute die politischen Institutionen im Land, der übergroße Einfluss des Senats etwa, wo konservative Minderheiteninteressen stark überrepräsentiert sind. Dazu kommt die große Macht der Judikative und des Obersten Gerichtshofs, der ebenfalls eine starke Schieflage zugunsten der Konservativen hat. Das sind die Hürden für den Politikwechsel.
Der US-Präsident Franklin D. Roosevelt hat immer gesagt - auch wenn seine Gegner ihn zum Sozialisten erklärten - er wolle den Kapitalismus retten. Gilt das auch für Biden?
Viele Menschen in den USA sind weiter davon überzeugt, dass die Marktökonomie die Maschine gesellschaftlichen Fortschritts ist und dass Regierungen dies nur behindern, das hat ja eine starke Logik. Doch schaut man auf die Daten und die großen Trends im Wirtschaftswachstum - nicht nur in den letzten Jahrzehnten, sondern in den letzten Jahrhunderten -, dann wird klar: Der Hauptmotor für Wachstum ist massenhafter Zugang zu Bildung, eine Krankenversicherung für alle, gute öffentliche Infrastruktur. All das erfordert einen starken Staat und das Erheben von Steuern. Kein Staat ist wohlhabend geworden ohne einen dramatischen Anstieg des Verhältnisses von Steuererhebung zum Bruttoinlandsprodukt, es gibt eine starke Korrelation zwischen Lebensstandards und der Größe der Regierung von Staaten. Also nein, es sind nicht nur der Markt und der Wettbewerb, die das Wachstum treiben, sondern auch die Kooperation der Regierung, also soziales Vertrauen. All das ist wichtiger für die Entwicklung von Wohlstand.
Wenn Sie ein politisches Sofortprogramm beschließen könnten, was wären die drei oder vier wichtigsten Schritte?
Nun, das ist nicht besonders originell: massive staatliche Investitionen in Dekarbonisierung. Dann eine universale staatliche Krankenversicherung, wie in anderen reichen Industrieländern. Eine Vermögensteuer, weil der Reichtum der Reichsten weiterhin schnell wächst.
Bei Vermögensteuern ergibt sich ja immer die Frage der Umsetzung. Sie gilt als kompliziert.
Nein, eigentlich ist sie das nicht. Man weist einfach die Steuerbehörde an, Informationen über die größten Vermögen zu erheben. Die liegen zum Teil schon vor, in verschiedenen finanziellen Institutionen. Und dann schickt man den Betroffenen eine Steuerschätzung zu. »Ihr Vermögen hat die Höhe von Y, wenn nötig korrigieren sie die Information bitte.« Und dann müssen sie darauf X Prozent Steuern zahlen.
Was wäre Ihr X?
Ich mag das Konzept von Bernie Sanders aus der Vorwahl 2019. Seine Vermögensteuer startet ab 32 Millionen Dollar - wer weniger hat, zahlt nichts. Bis 50 Millionen Dollar betrug die Abgabe ein Prozent, im nächsten Schritt zwei Prozent und dann in mehreren Stufen bis maximal acht Prozent für Vermögen über zehn Milliarden Dollar. In Deutschland und in europäischen Ländern gibt es ja viel Erfahrung mit Vermögensteuern, aber sie waren immer sehr gering, gingen nie höher als ein bis zwei, maximal drei Prozent. Was Sanders vorgeschlagen hat, war dagegen ambitionierter. Angesichts der enorm gestiegenen Ungleichheit in den USA ist das aber auch angemessen.
Was wären Ihre Empfehlungen für Deutschland?
Sehr ähnliche. Die Vermögensteuer in Deutschland wurde ja nie modernisiert und angepasst und ist jetzt verschwunden. Also müsst ihr fast von vorne starten. Aber die Informationen dafür liegen den Steuerbehörden bereits teilweise vor. Dann könnte man alle Formen von Vermögen nach ihrem Marktwert besteuern, ohne Schlupflöcher, keine Ausnahmen für die Besitzer von Familienunternehmen - deren Wert kann man fair bewerten. Ihr könnt die Grenze, ab der die Vermögensteuer gilt, recht hoch setzen, so dass nur Leute die Vermögen im Millionenhöhe haben betroffen sind, sagen wir ab fünf, zehn oder 20 Millionen. Dann würde man weniger Menschen besteuern. Wenn man mit den Ultrareichen beginnt, dann ist es einfacher, gegen das Anti-Steuer-Lobbying vorzugehen, damit die Leute nicht sagen können »Das belastet einfache Rentner, die vielleicht ein wertvolles Haus, aber wenig Einkommen haben, oder die Eigentümer von Kleinunternehmen.« Wenn du mehr als 20 Millionen Dollar Vermögen hast, dann bist du sehr reich. Und dann kannst du auch ein bisschen mehr Steuern zahlen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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