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Die Kälte in mir
Jeja nervt: Angst, Gewalt und Sucht in der Familie
Seit vielen Jahren trage ich eine Fantasie mit mir herum. Sie besagt, dass es draußen kalt und gefährlich ist. Ich dachte immer, dass ich einmal am Boden eines Bahnhofes erfrieren würde, wenn ich auf halber Strecke nachts keinen Anschlusszug mehr bekäme. Ging ich abends aus, fürchtete ich den Nachhauseweg durchs kalte Dunkel. Es ist eine spezifische Angst vor Kälte, wegen der ich die Wohnung oft lieber nicht verließ.
Als ich ein Kind war, hat mich meine Mutter zur Strafe eingesperrt, später gar in einen Kellerraum. Zuhause herrschten emotionale Kälte und ein Regime der Angst. Ich lernte: Nur, wenn man sich an die schwer zu verstehenden und zu befolgenden Regeln der Erwachsenen hält, gibt es Liebe. Ich darf mich nicht von ihnen und ihren Regeln entfernen, weil ich noch zu klein bin, um alleine draußen zu überleben.
Ich lernte nicht, wie man den Haushalt macht, ein Essen bereitet, die Waschmaschine bedient. Meine Mutter machte sich unentbehrlich. Meist fügte ich mich der Unselbständigkeit und der giftig-großzügigen Versorgung. Doch mit der Zeit wuchs in mir eine Rebellion, die die Wahrung meiner Grenzen, die Beachtung meiner Rechte und die Gewährung meiner Freiheit einforderte.
Vor einigen Wochen bin ich darauf gestoßen, dass da noch ein Erwachsener war: mein Großvater. Der »passte« auf mich und meine Brüder auf, nachdem sich meine Mutter von meinem Vater getrennt hatte. Immer, wenn sie zur Arbeit musste, kam er aus der Kleinstadt, trotz seines Alters, mit dem Fahrrad zu uns aufs Dorf. Und er kam so lange, bis er nicht mehr konnte. Er verreckte an seinem Alkoholismus: Speiseröhrenkrebs. Der Rat der Töchter beauftragte meine Mutter mit der Überbringung der ärztlichen Nachricht, als keine Hoffnung mehr bestand. Er war ein Tyrann. Hätten die Amis ihn doch erwischt, als er als Hitlerjunge mit der Flak auf sie schießen musste.
Wie die Kindheit meiner Mutter gewesen ist, kann ich nur erahnen. Ich stelle es mir als eine Art Co-Abhängigkeitsverhältnis zu einem kontrollierenden, angsteinflößenden, süchtigen und eifersüchtigen Vater vor. Sie entwickelte ihre eigene Sucht: Die, gebraucht zu werden. Den eigenen Narzissmus durch vermeintliche Aufopferung und Selbstlosigkeit zu flicken. Sie integrierte diesen entrückten Mann ins Leben, ließ ihn gar auf die eigenen Kinder los. Die Familie hält gegen das von außen drohende Unheil zusammen. Ihre Hand reichte die Gießkanne, aus der ich geizig gegossen wurde, wie die Schläge, mit der ich gebrochen und dankbar geprügelt werden sollte. Es gelang nur bedingt.
Ich entwickelte meine Sucht: Immer wieder Beziehungskonstellationen suchen, in denen ich meine Theater der Rebellion aufführen konnte. Nachdenken, Lesen, Intellektualisieren, um nicht fühlen zu müssen. Vermeintlich konstruktiv das Gespräch suchen, aber auch: unterschwellig aggressiv psychologisieren - ganz so, als wäre ich noch das Kind, dem Schläge ohne Ausweg drohten. Entziehen, Boykottieren, Schweigen, Erstarren, wenn sich die Übergriffigkeiten nicht stoppen ließen.
Ein Guerillakrieg um Liebe, an dem ich meinen Anteil hatte und in dem ich hoffte, einen alten, frostigen König Schachmatt zu setzen. Warum sah niemand, wie ich mich aufopferte und mütterlich dazu einlud, sich an meinem Rockzipfel zu halten? Warum erkannten sie sich nicht selbst, wuchsen über sich hinaus, lernten, zu lieben, ohne zu kontrollieren? Ich selbst hemmte ihr Wachstum.
Vermutlich hatte meine Mutter eine ähnliche Angst vor meinem alkoholkranken Großvater wie ich vor ihnen beiden. Ich bin froh, gegen sie gekämpft zu haben, als ich alt und stark genug war, statt Jahre später, wie sie, die eigenen Kinder zum Quell nie endender Liebe zu verpflichten. Ihre Warnungen vor dem Unheil, das dem droht, der Rechte fordert, ohne seine »Pflichten« zu erfüllen - dem, der auf eigenen Füßen in die gefährliche, kalte Welt hinauszieht - hallen in mir wider. Sie hindern mich noch heute, wirklich diejenigen Verbindungen zu knüpfen, die die Kälte in mir zu erwärmen imstande wären.
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