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Schöngeister mit Waffen
In seinem Buch »Der Pate und sein Schatten« widmet sich Ulrich van Loyen dem literarischen Schaffen der Mafiosi
Wer es im Kapitalismus zu Wohlstand gebracht hat, betätigt sich am Ende zuweilen als Wohltäter. In dieser Hinsicht verhalten sich Verbrecherbosse nicht viel anders als die Betreiber von legalen Unternehmen. Italienische Mafiosi stilisierten sich nicht selten als soziale Banditen, die den Armen gaben, was sie den Reichen nahmen, und dabei vor allem die Belange ihrer Herkunftsregion oder ihres Stadtviertels im Auge hatten. Ihre Vorbilder stammten häufig aus der einschlägigen Mafia-Literatur: Als ein Angehöriger der Camorra vor ein paar Jahren »mit schönem Gruß vom Bürgermeister« Essenspakete unter den Armen des Viertels Sanità in Neapel verteilen ließ, spielte er auf die populäre Figur des wohlmeinenden Quartiersbosses aus einer populären Tragikomödie des Schriftstellers Eduardo de Filippo an.
Die Gangster begreifen sich selbst als Teil der Stadtgeschichte, deuten ihre Aktivitäten in den Schablonen, die ihnen Literatur und Kulturindustrie anbieten, und sie nehmen selbst Einfluss auf ihr öffentliches Bild, indem sie eigene Beiträge zum kulturellen Leben beisteuern: durch Interviews oder auch als Verfasser von Lyrikbänden und Romanen. »Die Verflechtung von Hochkultur, Kulturindustrie und ›cultura populare‹ ist nirgendwo so ausgeprägt wie im Fall der neapolitanischen Camorra«, schreibt der Ethnologe und Literaturwissenschaftler Ulrich van Loyen in seinem Essay »Der Pate und sein Schatten. Die Literatur der Mafia«. So zeichnete Lovigino Guiliano (geboren 1949) für verschiedene Liedtexte verantwortlich, und das Vorwort für seinen 1993 veröffentlichten Gedichtband »Die Kirschen des Schmerzes« steuerte der Dichter Alessandro Quasimodo bei - der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Salvatore Quasimodo.
Auch Raffaele Cutolo (1941-2021) betätigte sich als Lyriker, und zwar offenbar als ein ganz passabler. Sein 1984 veröffentlichtes Kokain-Gedicht erinnert van Loyen jedenfalls an die expressionistischen Gedichte, die Georg Trakl oder Walter Rheiner der nämlichen Droge widmeten. Als Gefängnisinsasse schickte er regelmäßig Gedichte an Tageszeitungen wie »Repubblica«, die allerdings nur selten gedruckt wurden. Einige erschienen in Büchern - allerdings nicht ganz ohne literaturfremde Hintergedanken. Zumindest Cutolos Anwalt wollte mit ihrer Veröffentlichung vor Gericht den Eindruck erwecken, »eine solch empfindsame Seele könnte die ihr zugesprochenen Verbrechen nicht ohne Weiteres begehen«.
Das Bedürfnis, sich selbst in ein möglichst gutes Licht zu stellen, zeigt sich auch im literarischen Schaffen von Guiseppe Misso (geboren 1947), der mehr als 30 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbrachte. 2005 debütierte er mit einem Roman, in dem er ziemlich unverschlüsselt von seiner Verbrecherkarriere erzählte. Zehn Jahre später folgte eine Fortsetzung, in der es nicht zuletzt um den familiären und emotionalen Preis geht, den ein Bandenangehöriger zahlen muss, der die Kronzeugenschaft in Anspruch nimmt. In beiden Büchern zeichnet er von sich das Bild eines Anti-Camorrista, eines sozial orientierten Anarchisten, der sich der Sprache und Handlungsweise der Verbrecherbande bedienen musste, um ihr entgegentreten zu können.
Doch wie viel subjektiv empfundene Wahrheit darin auch stecken mochte, wer sich öffentlich gegen den Banditenboss stellte, war seines Lebens nicht mehr sicher, wie van Loyen berichtet: »Auf Missos Konten gehen noch Jahre nach den Gerichtsverhandlungen angeordnete Erschießungen von Zeugen, die der Staat nicht schützen zu müssen glaubte.« Während eines Forschungsaufenthalts in Neapel beobachtete van Loyen, wie viele inhaftierte Angehörige von Missos Gefolge nach und nach zum Sterben nach Hause entlassen wurden. »Es waren schwere, gebrochene alte Männer, oft krebskrank, die mit ihren zur Seite geschafften Mitteln ihre Nachkommen angehalten hatten, ihrem eigenen Beispiel nicht zu folgen und in der Ferne zu studieren, um eine bürgerliche Karriere einzuschlagen. Das ließ die Alten gelegentlich hoffnungslos romantisch und anachronistisch wirken, ihre Kinder aber waren dabei, Anwälte, Lehrer oder Schauspieler zu werden. Als solche kehrten sie in das sozial instabile Quartier zurück und kümmerten sich um Kinder, deren Eltern wiederum ihre Eltern auf dem Gewissen hatten.«
Einige von denen, die den Absprung aus dem Verbrechermilieu nicht schafften, wirkten als Komparsen und Kleindarsteller in der von Sky und Canal+ koproduzierten Fernsehserie »Gomorrha« mit. »Einer der Caster war selbst Sohn eines unter verschärften Bedingungen einsitzenden ehemaligen Misso-Vertreters im Viertel Sanità. Und gelegentlich kam es auch vor, dass Darsteller vom Set weg verhaftet wurden. Die Produzenten wurden immer ärgerlicher: Zwar hatte man diese Darsteller wegen ihrer Street Credibility gebucht, aber sicher nicht, damit diese dem Produkt in die Quere kam. Zudem konnte man aus den Verhaftungen keinen Reality-Effekt schlagen: Wenn es sich um Personen handelte, die unter Hausarrest standen, kam ein öffentlicher Auftritt strafbeschwerend hinzu.«
Roberto Saviano, der Autor des Buches »Gomorrha«, das die Idee für die TV-Serie lieferte, wird unterdessen seit Jahren mit dem Tode bedroht. Den Grund dafür sieht der Autor des facettenreichen Essays allerdings weniger in dessen literarischen Texten als in seinem Engagement als Anti-Mafia-Aktivist, der sowohl Demonstrationen organisiert als auch die Bosse persönlich beleidigt. Wissenschaftliche und journalistische Recherchen mochte die Camorra noch hinnehmen - Fiktives erst recht. Doch wenn »jemand seine persönliche Gegnerschaft erklärt und Leute dafür mobilisiert, ist der Toleranzgürtel überschritten«.
Ulrich van Loyen: Der Pate und sein Schatten. Die Literatur der Mafia. Matthes & Seitz, 198 S., br., 15 €.
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