Ringen um Priorisierung

Industriebranchen warnen vor einem Stopp von Gaslieferungen aus Russland. Lobbyisten sind in Stellung

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Blick auf einen Teil der BASF-Anlagen in Ludwigshafen
Blick auf einen Teil der BASF-Anlagen in Ludwigshafen

Die chemische Industrie warnt vor einem Importstopp von Öl und vor allem von Gas aus Russland. Dabei geht es nicht allein um die Energieerzeugung. Erdgas sei auch notwendig für die Wertschöpfungsketten in Deutschland, so der Verband der Chemischen Industrie (VCI) kürzlich in Frankfurt am Main. Was zunächst wie gewöhnliche Lobbypolitik erscheint, weist auf ein grundlegendes Problem hin: »Wer die Energie- und Rohstoffversorgung für die chemische Industrie kurzfristig abschaltet, lähmt auch die gesamte Industrieproduktion am Wirtschaftsstandort Deutschland«, betont der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Wolfgang Große Entrup. »Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen wären gewaltig.«

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Auf den Punkt gebracht: Ohne Chemie läuft die Wirtschaft nicht. 95 Prozent aller Industrieerzeugnisse in Deutschland benötigen heute laut VCI in ihrem Entstehungsprozess Chemieprodukte. Eine Einschätzung, die von Wirtschaftswissenschaftlern, Bankanalysten, dem DGB und den Branchengewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie geteilt wird.

Auch in unserem Alltag ist Chemie allgegenwärtig: Petrochemische Produkte stecken im Auto und Computerchip, in Dämmmaterialien und Fernsehern. In unserer Kleidung, in Hautcremes, Wasch- und Reinigungsmitteln steckt Chemie, selbst in Medikamenten wie beispielsweise Kopfschmerztabletten. Zudem sind in vielen Produktionsprozessen, etwa in der Lebensmittelindustrie, bestimmte Gase, Dämpfe oder Schäume im Einsatz, die von Chemieunternehmen geliefert werden.

Der wichtigste Rohstoff der chemischen Industrie ist neben Öl eben das Erdgas. Es ist aus organischen Substanzen entstanden und enthält den zentralen Baustein des Lebens: Kohlenstoff. Aus diesem werden zwei Dutzend sogenannte Basischemikalien hergestellt: etwa Methanol, aus dem Düngemittel produziert werden, Propylen für Babywindeln oder Butan für Hochleistungskunststoffe im Flugzeugbau. Aus solchen Basischemikalien stellt die Chemieindustrie nach eigenen Angaben mehr als 30 000 Produkte her, die dann in der Auto- und Pharmaindustrie oder im Maschinenbau weiterverarbeitet werden.

Wie komplex diese Prozesse sind, zeigt sich im größten Chemieareal der Welt in Ludwigshafen. Am BASF-Stammsitz arbeiten rund 39 000 Menschen auf einer Fläche von zehn Quadratkilometern. Vorstandsvorsitzender Martin Brudermüller spricht von einem »Verbundkonzept«: Produktionsanlagen, Energieflüsse und Logistik werden dort miteinander vernetzt. Dazu gehören drei eigene Kraftwerke, 106 Kilometer Straße, 230 Kilometer Schiene und 2850 Kilometer Rohre. Das erste Glied in dieser vielfach verzweigten Wertschöpfungskette von BASF ist das Gas. Allein das Werk in Ludwigshafen verbraucht rund vier Prozent der deutschen Gasimporte und nutzt diese für Energiegewinnung und eben als Rohstoff. Dazu muss das Rohgas in sogenannten Crackern aufgespalten werden.

Die genaue Zusammensetzung des Gases ist von der Lagerstätte im Förderland abhängig. So besitzt das preiswerte europäische Pipeline-Erdgas einen geringen Ethangehalt. Im Mittleren Osten steht dagegen bei der Erdölförderung anfallendes Gas mit hohem Ethangehalt zur Verfügung. Ethan wird als Kältemittel für Kälte- und Klimaanlagen benötigt und zur Produktion von Essigsäure benötigt, die wiederum eine der meist verwendeten Industriechemikalien darstellt.

Dies erklärt, warum die chemische Industrie in Deutschland aus Katar größere Mengen teureres Gas importiert. Das kleine Emirat ist der weltgrößte Exporteur von LNG, verflüssigtem Erdgas, welches per Schiff nach Europa transportiert wird. Was dann im Ergebnis das katarische Importgas hierzulande für die Industrie kostspielig macht.

Vor diesem Hintergrund mehren sich gerade Stimmen aus der Wirtschaft, die vor einem Stopp von Gas aus Russland warnen. Aus der deutschen Autoindustrie heißt es, dass nur rund neun Prozent der im Fahrzeugbau nachgefragten Menge bis zum Herbst und Winter ersetzt werden könnten. »Die Betroffenheit wäre daher enorm«, lässt sich der Autoherstellerverband VDA zitieren. »Ein Komplettausfall russischer Gaslieferungen wäre ein gewaltiger Stresstest für die EU«, sagt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Dies hätte unabsehbare Folgen für Versorgungssicherheit, Wachstum, Beschäftigung und politische Handlungsfähigkeit.

Hinter und vor den Kulissen wird bereits für den Fall zu knapper Mengen um eine Priorisierung gerungen. Der Vorstandsvorsitzende des Pharmaindustrieverbandes BPI, Hans-Georg Feldmeier, betonte, man gehe davon aus, dass Pharma als kritische Infrastruktur gesehen werde. »Wir erwarten, dass mögliche Restriktionen in unserer Branche zuletzt oder gar nicht kommen.« Lobbyisten stehen in Berlin und Bonn Schlange. Dort sitzt die Bundesnetzagentur, die während einer Gaskrise entscheiden müsste, wer welche Mengen erhält. Bei der Abschaltreihenfolge handele es sich um Einzelfallprüfungen, hat die Behörde bereits klargestellt. So sieht es der »Notfallplan Gas« der Bundesregierung aus dem Jahr 2019 vor. Eine generelle Ausnahme ganzer Branchen, wie es die Lobbyisten wünschen, ist demnach nicht vorgesehen.

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